Wir haben die Macht der Straße

Mit Demos, Aktionen und zivilem Ungehorsam können wir einen sozialen, solidarischen Wandel erreichen. Die Zeit dafür ist jetzt. Auf die Parteien können wir nicht warten

Am 3. Februar 2024 protestierten 30.000 Menschen in Dresden gegen die AfD Foto: Roland Geisheimer/attenzione/agentur focus

Von Ruth Lang Fuentes

Die deutsche Bevölkerung ist unzufrieden. Falsch. Nicht nur die deutsche. Egal, wo man in Europa unterwegs ist, alle scheinen unzufrieden zu sein. Und damit meine ich jetzt nicht unbedingt die Faschismus-affinen Wähler:innen, die ihre Unzufriedenheit als Ausrede vorschieben, wenn sie auf rechtsex­treme Parteien setzen, die endlich „wieder Ordnung in das Ganze bringen sollen“.

Nein, ich meine, den restlichen Teil der Bevölkerung. Den demokratischen Teil, der (zum Glück) immer noch in der Mehrheit ist, wie man Anfang des Jahres bei den landesweiten Demonstrationen gegen Rechtsextremismus sehen konnte. Und der sich vor allem nur eines wünscht: ein sicheres, selbstbestimmtes Leben in Würde.

Ich meine, den Ladenbesitzer bei mir um die Ecke, der nicht weiß, wie lange er die Miete noch stemmen kann, während diese weiter steigt und die Kaufkraft sinkt. Wie zum Beispiel die Rentnerin, die immer zu ihm kommt, aber bei der die Rente kaum noch reicht, selbst wenn sie Flaschen sammeln geht. Ich meine auch den Vorstand der Grünen Jugend, junge, idealistische Leute, die bereit sind, sich zu engagieren und nun genug von der Mutterpartei haben und endlich eine „richtige“ links-ökologische Jugendorganisation gründen möchten.

Ich meine mich selbst, die jeden Tag mit Kriegen, Klimakrise und sozialer Ungerechtigkeiten konfrontiert wird. Und sich oft alleine fühlt und fragt, was kann man noch tun? Bis ich mit anderen – und zwar weit über meine links-grün-versiffte Bubble hinaus – spreche und wir doch am Ende alle bei einem übereinstimmen: Wir sehen meist dieselben Probleme, aber keine Partei, von der wir uns richtig vertreten fühlen.

Hoffnung, dass ir­gend­ei­n:e Po­li­ti­ke­r:in vernünftige Entscheidungen für alle trifft, haben wir auch keine mehr. Die Regierungsparteien selbst wirken ja unzufrieden, ja, gar orientierungslos.

Vielleicht ist Unzufriedenheit gar nicht das passende Wort. Es ist eine Art Resignation, eine Hoffnungslosigkeit gegenüber den Parlamenten und den Regierungen, es ist Angst vor der Zukunft gepaart mit Existenzängsten in der Gegenwart, es ist Wut auf Leute wie Christian Lindner und seine Spießgesellen, die nur Eigeninteressen im Sinn haben, und die Angst vor denen, die ihm nach der Wahl kommendes Jahr folgen könnten.

Aber warum eigentlich auf Lösung „von oben“ warten? Auf die leise Hoffnung, dass sich eventuell irgendwann in der Zukunft endlich eine linke, ökologische Partei gründen möge, die man dann wählen könnte? Wir leben in Deutschland schließlich (immer noch) in einer Demokratie. Wir können aktiv was verändern, wenn wir uns doch zusammen tun. Demokratie kommt schließlich vom altgriechischen Wort „dēmokratía“, was soviel wie Volksherrschaft bedeutet. Dabei geht es nicht nur darum, dass das Volk die Regierung wählen und wieder abwählen kann. Nein, dass Bür­ge­r:in­nen viel mehr Macht haben, als sie meinen: die Macht der Straße.

Das mag jetzt vielleicht pathetisch klingen. Ist es aber nicht. Eine Studie der US-amerikanischen Politologin Erica Chenoweth ergab, dass es nur 3,5 Prozent der Bevölkerung auf der Straße braucht, um einen tiefgreifenden politischen Wandel einzuleiten. Besonders erfolgreich seien laut der Studie vor allem die gewaltfreien Kampagnen. In Deutschland wären 3,5 Prozent knapp drei Millionen Menschen. Das ist nicht viel.

Wohnraum für alle, keinen Faschismus, einen funktionierenden Sozialstaat, faire Löhne und faire Renten …Es gibt genug Forderungen, hinter denen sicherlich mehr als drei Millionen Menschen hierzulande stehen. Oft frage ich die Leute, wenn sie wieder ihre politische Resignation äußern, ob sie bereit wären, auf die Straße zu gehen für oder gegen eine bestimmte Sache. Überraschenderweise lautet die Antwort meistens Ja.

Warum denn nicht diese Grundstimmung nutzen, um sich zusammenzutun? Druck auszuüben. Das „demos“ wieder zurück in die Demokratie zu bringen. Selbstwirksamkeit und Zusammenhalt zu spüren, statt Resignation. Tut euch zusammen mit euren Forderungen, tauscht euch aus, informiert euch, wehrt euch. Zeigt, dass wir mehr sind als die Faschos. Und dass eine soziale und solidarische Gesellschaft möglich ist.

Wir brauchen nicht direkt die Revolution, aber wir brauchen einen radikalen Wandel. Bevor der Wandel in die falsche, in die neoliberale oder gar rechtsradikale Richtung voranschreitet. Und dieser Moment ist jetzt. Auf eine neue links-ökologische Partei und deren politischen Erfolg zu warten, ist Zeitverschwendung. Auf Einsicht im festgefahrenen Bundestag zu hoffen, aussichtslos. Die Parteien brauchen Orientierung und die muss man ihnen von unten, von der Straße aus geben. Mit Aktionen, zivilem Ungehorsam, Kundgebungen, Demonstrationen. Dafür braucht es auch nicht alle. Es braucht nur genug. Und wir sind genug.