Lauter Leerstellen

In Berlin nimmt eine Ausstellung in Kooperation mit dem Literaturmuseum Charkiw die ukrainische Literaturgeschichte in den Blick

Von Julia Hubernagel

Äußerliche Ähnlichkeiten gibt es keine zwischen dem alten Hotel Continental im ukrainischen Mariupol und dem erst vor zwei Jahren unter gleichem Namen eingerichteten Kunstraum in Berlin-Treptow. Doch der größte Unterschied besteht ohnehin darin, dass das eine noch steht und das andere nicht. Das Ende des 19. Jahrhunderts im neorussischen Stil errichtete Eckgebäude war bereits zum Kunstmuseum umfunktioniert, als es 2022 bei der Belagerung von Mariupol schwer beschädigt wurde. In der Folge eröffnete in Berlin das „Hotel Continental – Art Space in Exile“, um Künst­le­r:in­nen aus der Ukraine und anderen kriegsgebeutelten Regionen zu unterstützen.

Die meisten der aktuell dort ausgestellten Künst­le­r:in­nen sind allerdings bereits tot. Die Ausstellung „Antitext“ bietet einen Überblick über die hierzulande eher unbekannte ukrainische Literaturgeschichte und wurde vom Literaturmuseum Charkiw mitkonzipiert. Seine Exponate, Samisdat-Literatur und seltene Ausgaben lange verbotener Bücher, hat das Museum zu Beginn der russischen Invasion in Sicherheit gebracht – obwohl es „sichere Orte in der Ukraine momentan gar nicht gibt“, sagt Tetiana Ihoshyna, stellvertretende Entwicklungsleiterin des Literaturmuseums Charkiw, bei der Ausstellungseröffnung am Dienstag. Normalerweise zeigt das Charkiwer Museum Exponate aus der Sowjetzeit, als kritische ukrainische Dich­te­r:in­nen systematisch verfolgt wurden. Eigentlich, sagt Ihoshyna, habe man gedacht, die Zeit, in der Literatur versteckt werden müsse, sei vorbei.

Die Ausstellung in Berlin wirft Licht auf verschiedene Phasen der sowjetischen Herrschaft in der Ukraine. Sehr repressiv gingen die Besatzer in den 1930er Jahren vor. Hatten die sowjetischen Behörden die Bibliotheken zunächst noch strikt nach Verbotslisten durchkämmt, kostete das die Machthaber schnell zu viel Zeit. Von verdächtigen Autoren seien „alle Werke, in allen Jahren, in allen Sprachen“ zu entfernen, lautete der Befehl. Von der „Erschießung einer ganzen Generation“ ist die Rede.

Die Zeit der Massenhinrichtungen währte nicht lange. In den folgenden Jahrzehnten ging man dazu über, unliebsame Schrift­stel­le­r:in­nen in Gulags zu internieren. Dort verfasste Schriften fanden nur selten ihren Weg an den Lagerkommandanten vorbei. „Wir suchen dich tröpfchenweise“, notierte Andrij Malyschko über seinen Dichterkollegen Hyrhory Koryuka, dessen Manuskript bei seiner Verhaftung 1934 beschlagnahmt wurde.

Es sind viele unbekannte Au­tor:in­nen, die in der Ausstellung ins Licht gerückt werden, viele vergessene Namen. Auch sie als Ukrainerin lerne im Moment viel über ukrainische Kultur, sagt Kateryna Rietz-Rakul, Direktorin des Ukrainischen Instituts in Deutschland. Die Biografien der verfolgten Schrift­stel­le­r:in­nen sind dabei oft zweideutig, entziehen sich klarer Kategorisierung.

Zu nennen wäre Jurij Smolytsch, eine Art ukrainischer Sascha Anderson, der in den 1920er Jahren Mitglied verschiedener ukrainischer literarischer Organisationen war, später jedoch „freiwillig“ Informant des NKWD wurde. Oder Wiktor Petrow, der als Erfinder des intellektuellen Romans in der ukrainischen Literatur gilt, dessen Rolle in der NS-Zeit jedoch als mindestens zwielichtig zu umschreiben ist. Petrow widmet sich übrigens Sofia Andruchowytsch in ihrem neuen Roman, der in wenigen Tagen auf Deutsch erscheint.

Sie ist sehr textlastig, diese „Antitext“-Ausstellung, denn weder Exponate noch Fotos derselben untermalen die Autorenbiografien. Das ist schade, hat aber Gründe, sagt Ihoshyna. Denn die Gefahr, dass die lange versteckten Manuskripte und Schriftstücke in den Wehen des Krieges verloren gehen oder gezielt von den russischen Angreifern zerstört werden, sei groß und soll durch eben diese Leerstellen verdeutlicht werden.

„Antitext“. Hotel Continental – Art Space in Exile, Berlin, bis 12. 10.