Shalom, Gaza Street

Auf der Derech Azza in Jerusalem protestieren seit Monaten Angehörige israelischer Geiseln gegen den Krieg von Netanjahu und für die Freilassung ihrer Lieben. Doch nicht alle hier sind damit einverstanden

Shay Dickmanns Cousine wurde als Geisel von der Hamas getötet. Doch für andere gebe es noch Hoffnung, glaubt sie. 28. 4. 24

Aus Jerusalem Anna-Theresa Bachmann
(Text) und Yahel Gazit (Fotos)

Immer wieder setzt Shay Dickmann zum Sprechen an. Doch nur ihr schweres Atmen ist aus den Boxen links und rechts der Bühne zu hören. Vor ihr haben sich am Kopf der „Derech Azza“ mehrere hundert Menschen versammelt, junge wie alte, von denen einige auf herbeigebrachten Plastikstühlen und den umliegenden Bänken Platz genommen haben. So wie jeden Samstagabend. 20 Sekunden vergehen. „Du bist nicht allein!“, durchbricht eine Frau aus der Menge die Stille, andere Protestierende pfeifen der 29-Jährigen ermutigend zu. „Ich bin die Cousine von Carmel Gat“, sagt Dickmann schließlich mit zitternder Stimme ins Mikrofon. So als kenne nicht längst ganz Israel die Geschichte der Medizinstudentin aus Jerusalem. Und die ihrer älteren Cousine, die am 7. Oktober vergangenen Jahres von der Hamas aus dem Kibbuz Be’eri in den Gazastreifen verschleppt wurde.

Vor einem Monat barg Israels Armee die Leichen von Gat und fünf weiteren Geiseln aus einem Tunnel in Rafah – erschossen zwei oder drei Tage zuvor aus nächster Nähe, heißt es im Obduktionsbericht. Dass ein Einrücken in Rafah das Leben der Geiseln gefährden würde, davor habe ihre Familie immer wieder gewarnt, sagt Dickmann. „Die politischen Entscheidungsträger haben das gewusst“, ruft sie den Hunderten Protestierenden zu, „Schande, Schande“, ruft die Menge. „Bibi, ist es das, was Sieg für dich bedeutet?“

Gemeint ist Benjamin Netanjahu. Die offizielle Residenz des Premierministers in West-Jerusalem liegt zwei Gehminuten von der Bühne entfernt. Rund 500 Meter geradeaus trennen die Demonstrierenden zudem vom Wohnhaus des Likud-Politikers, das dort gegenüber einem Spielplatz und einem Luftschutzbunker auf der „Derech Azza“ liegt – Hebräisch für Gaza-Straße. Sie heißt so, weil sie lange vor der Staatsgründung Israels Teil einer historischen Straße war, die die Heilige Stadt mit der Mittelmeerküste und Gaza-Stadt verband. Ob an den Bushaltestellen, Häuserwänden oder Laternenmasten: Überall auf der „Derech Azza“ finden sich politische Botschaften. An kaum einem anderen Ort dieser ohnehin symbolträchtigen Stadt treten die gegenwärtige Trauer, Wut und Zerrissenheit der israelischen Gesellschaft so plakativ zutage wie auf diesem halben Kilometer Asphalt. Und das nicht nur zu den lautstarken, wöchentlichen Demonstrationen, die längst nicht alle im Viertel befürworten.

Vor dem Terrorangriff der Hamas, bei dem laut israelischen Angaben rund 1.200 Menschen getötet wurden und in dessen Folge nach Zahlen der von Hamas kontrollierten Gesundheitsbehörde im Gazastreifen bislang mehr als 41.000 Pa­läs­ti­nen­se­r:in­nen den israelischen Militärangriffen zum Opfer fielen, habe Politik in ihrem Leben keine Rolle gespielt, sagt Dickmann. So erzählt sie es einen Tag vor ihrem Auftritt, in einem Café in Tel Aviv.

Dickmann ist die rund 50 Kilometer aus Jerusalem angereist, um an einer Yoga-Session im Kunstmuseum teilzunehmen. Nach dem ersten und einzigen Geisel-Deal im November hatten Freigelassene erzählt, dass die 40-jährige Gat sie mit Meditations- und Yogaübungen während der Haft darin bestärkt habe, nicht aufzugeben. Seither findet der Kurs im Kunstmuseum jede Woche statt, um an die rund 100 verbliebenen Geiseln in Gaza zu erinnern, von denen zwei Drittel laut israelischen Angaben noch am Leben sein sollen.

„Für unsere Familie ist es zu spät“, sagt Dickmann: „Aber für andere gibt es noch Hoffnung.“ Auch wenn Dickmann mittlerweile klar geworden sei, dass das Überleben der Geiseln für ihre Regierung, von der sie sich verraten fühlt, keine Priorität habe. Der Druck auf die Politik müsse dennoch aufrechterhalten werden. Nur ein weiterer Deal und ein Waffenstillstand könnten zu einer Befreiung der Geiseln führen, da ist sich Dickmann sicher. Es sei schmerzhaft, dass sich die militärische wie mediale Aufmerksamkeit nun immer weiter in Richtung Norden verlagert, wo sich Israel und die Hisbollah seit einem Jahr beidseitig der Grenze bekriegen und nach der Ermordung des Hisbollah-Chefs Hassan Nasrallah am Wochenende nun eine israelische Bodenoffensive begonnen hat.

Die Kraft, sich weiter für eine Rückkehr der Geiseln einzusetzen, ziehe Dickmann aus der Unterstützung der vielen Menschen, die so, wie sie selbst, seit einem Jahr auf die Derech Azza ziehen. Ähnlich wie auf dem Platz vor dem Kunstmuseum in Tel Aviv, erinnert auf der Derech Azza ein Zelt an die Geiseln: Es ist mit ihren Fotos beklebt und rund um die Uhr von Freiwilligen besetzt.

Michal Deutsch ist eine der Aktivist:innen, die die Geiselfamilien seit Beginn des Krieges unterstützt. Die 30-Jährige ist derzeit eines der bekanntesten Gesichter des Protests, auf der Derech Azza und darüber hinaus. Rund 20 Mal wurde die Jura- und Umweltwissenschaftsstudentin in den vergangenen zwei Jahren auf Demonstrationen und Straßenbesetzungen festgenommen. Zunächst bei Protestaktionen gegen den geplanten Umbaus des Justizsystems, die den Einfluss des Obersten Gerichtshof auf die Politik geschwächt hätte. Und später im Rahmen des Gazakrieges. Damit hält Deutsch – die beteuert, sich gewaltfreiem Protest verschrieben zu haben – den nationalen Rekord.

Dass sie diesen Titel einmal innehaben würde, war keineswegs vorgezeichnet. Aufgewachsen in einem „extremistischen Haushalt“, wie sie es nennt, habe auch Deutsch lange rechtsnationalen Narrativen angehangen. Etwa dem religiös-argumentierten Anspruch auf die von Israel besetzten palästinensischen Gebiete. Ihr Einsatz für Tierrechte sei es gewesen, durch den sie begonnen habe, ihre Grundsätze zu hinterfragen. Ihr sei klar geworden, dass sie sich nicht für Tierrechte einsetzen könne, ohne gleiche Rechte für alle Menschen einzufordern. Dogmatisch wirkt Deutsch deswegen nicht, wenn sie auf ihrem Jerusalemer Balkon umringt von ihren beiden Hunden über die vergangenen Monate resümiert.

„Emotional betrachtet, ist Derech Azza der richtige Ort für Protest, um unseren Schmerz rauszuschreien“

Michal Deutsch, Aktivistin

Kompromisse gehörten zu den Protesten dazu, sagt Deutsch, allein der Austragungsort sei so einer. „Emotional betrachtet, ist Derech Azza der richtige Ort für Protest, um unseren Schmerz rauszuschreien“, sagt sie. Strategisch klug sei er aber nicht: Die enge, zweispurige Straße lässt sich von der Polizei leicht abriegeln, in den vorangegangenen Monaten wurden zusätzliche Kameras und fest verankerte Absperrmöglichkeiten montiert. Wie oft Netanjahu tatsächlich auf der Azza einkehrt, weiß zudem niemand so genau. Neben seiner Residenz und seinem Wohnhaus in Jerusalem besitzt Netanjahu noch eine Villa am Mittelmeer.

Statt auf eine Einsicht Netanjahus zu warten, den Krieg endlich beenden zu wollen, seien Deutsch und die Mit­strei­te­r:in­nen der Aktivismusgruppe „Changing Directions“ dazu übergegangen, Kontakt zu anderen Likud-Politikern zu suchen. Diese könnten im Hintergrund Druck ausüben, hofft Deutsch.

„Für mich ist die Forderung nach einer Geiselfreilassung mit einem Ende des Krieges verknüpft“, sagt sie. Dies auf den Protesten klarer zu formulieren oder Aufmerksamkeit auf das Leid der palästinensischen Zivilbevölkerung in Gaza zu lenken, sei in der von Traumata geprägten Atmosphäre innerhalb der jüdischen Mehrheitsgesellschaft nicht leicht. Dass das Benennen des Leids in Gaza und die Forderung eines Kriegsendes auf den Demonstrationen nur am Rande eine Rolle spiele, sei für Deutsch einer der Gründe, warum sich ihnen so wenige Pa­läs­ti­nen­se­r:in­nen anschließen. Hinzu käme etwa die Angst vor Polizeigewalt, die laut Deutsch berechtigt sei und Palästinenser:innen, Äthio­pie­r:in­nen oder Ultraorthodoxe stets besonders hart treffe.

Tatsächlich begegnet man Pa­läs­ti­nen­se­r:in­nen und anderen Minderheiten auf der Derech Azza nur auf den zweiten Blick: als Taxifahrer, als Lieferanten, als Küchenpersonal. Zum Beispiel im Café von Ido Emanuel. Er lebt seit acht Jahren auf der Azza und beschäftigt in seiner Caférösterei „Sybaris“ zwei Angestellte aus dem seit 1967 von Israel besetzten und 1980 annektierten Ost-Jerusalem. Er vertraue diesen Palästinensern „zu 100 Prozent“, beteuert Emanuel. Wann immer der 29-Jährige mit seiner Familie ins Ausland reise, passe einer der beiden Männer auf seine Wohnung in der Derech Azza auf und füttere seine Katze.

Das Leid der Palästinenser klar zu benennen ist auch auf der Derech Azza schwer, beobachtet die Aktivistin Michal Deutsch .1. 9. 24

Aber es gebe ein Thema, dass er gegenüber den beiden Männern nicht ansprechen möchte. Denn er glaube, es könnte zu Konflikten zwischen ihnen führen: „Acht Monate lang spielte sich mein Leben zwischen Azza-Straße und Gazastreifen ab“, erzählt der Cafébesitzer. Dort diente er als Reservist, kam nur ab und zu „noch mit dreckiger Uniform“ nach Hause, um sich zu erholen. Zu seinen Aufgaben habe unter anderem gehört, palästinensische Zi­vi­lis­t:in­nen zu verhaften, die am 7. Oktober nach Israel eingedrungen waren. Ihnen wird vorgeworfen, sich an Plünderungen und Gewalt beteiligt zu haben. „In meinen Augen wurden sie damit auch zu Terrorist:innen“, sagt Emanuel. Er selbst habe zehn Freun­d:in­nen bei dem Terrorangriff verloren, fünf weitere seien als Sol­da­t:in­nen in Gaza gefallen.

Zwar seien die Einnahmen zuletzt eingebrochen, auch weil die Protestwellen der vergangenen Jahre zu vielen Straßensperrungen in der Derech Azza geführt hätten, aber an den aktuellen Demonstrationen in Emanuels Straße störe er sich nicht. Im Gegenteil, er unterstütze sie. Das „Bring them Home“-Schild im Schaufenster habe er direkt zu Beginn des Krieges angebracht, von dem er hofft, dass er so bald wie möglich endet. Dass einige An­woh­ne­r:in­nen und Protestierende fordern, den Namen seiner Straße zu ändern – etwa nach den Orten an der Grenze zum Gazastreifen, die von der Hamas überfallen worden waren –, hält Emanuel für falsch, ja beinahe für töricht. Er verweist dabei auf die lange Geschichte dieses Fleckens Erde. Und darauf, dass das Viertel Rehavia, durch das die Derech Azza verläuft, erst rund 100 Jahre alt ist.

Bis 1922 befand sich das Land im Besitz der damals verschuldeten griechisch-orthodoxen Kirche, die es an den Jewish National Fund und die Jewish Colonisation Association verkaufte – entgegen dem Protest der arabischen Bevölkerung. Unter dem deutsch-jüdischen Architekten Richard Kauffmann wurde Rehavia als Gartenstadt gestaltet, mit Bauhaus-inspirierten Häusern, die vor allem von migrierten und geflüchteten deutschen Juden und Jüdinnen bewohnt wurden. Darunter von vielen Künst­le­r:in­nen und Intellektuellen wie Else Lasker-Schüler und Mascha Kaléko. In Anlehnung an das bourgeoise Westberliner Viertel trug Rehavia zu jener Zeit deswegen den Spitznamen „Grunewald des Orients“. 1961 stand Rehavia im Blick der Weltöffentlichkeit – der Prozess gegen Adolf Eichmann fand rund 15 Gehminuten von der Derech Azza statt.

„Die Forderung nach der Freilassung der Geiseln ist mit einem Ende des Krieges verknüpft“

Michal Deutsch, Aktivistin

„Was mir an der Derech Azza gefällt, ist die kibbuzähnliche Atmosphäre“, sagt Emanuel. Mit der Zeit kenne je­de:r jede:n. Für ihn fühle sich Azza nach zu Hause an. Hier wolle er seine Kinder großziehen, sein Geschäft bald um einen Deli­katessenladen erweitern. Trotz des wöchent­lichen Lärms und der Polizei, die bereits mehrfach Stühle und Tische von dem frei zugänglichen Außenbereich des Cafés konfisziert hätte, damit diese nicht von Protestierenden benutzt würden.

Längst nicht in allen Restaurants und Geschäften hängen wie in Emanuels Café Plakate, die sich den Forderungen der Protestierenden anschließen. Die In­ha­be­r:in­nen eines neu eröffneten koscheren Restaurants etwa, von dessen Terrasse aus man direkt auf das Zelt zum Geiselgedenken blicken kann, sagen, sie möchten in ihren Räumen die Menschen lieber zusammenbringen, anstatt dass sie sich über Politik streiten. Darüber, dass in denselben Räumlichkeiten während der zweiten Intifada einer von zwei Selbstmordanschlägen auf der Straße stattfand, würden sie lieber nicht nachdenken wollen. Andere Ge­schäfts­in­ha­be­r:in­nen möchten sich gegenüber der taz erst gar nicht zum politischen Klima auf ihrer Straße äußern.

Orit Itzak hingegen hat viel Redebedarf. Ihre kleine Wohnung, die sie mit religiösen Symbolen dekoriert hat, liegt in einer der Seitenstraßen der Azza. Ja, auch sie wolle, dass die Geiseln lebend zurückkämen. Aber die Trauer der Angehörigen sei von linken Ak­ti­vis­t:in­nen gekapert worden, die Israels Gesellschaft spalten wollen, glaubt Itzak. Für sie würden die anhaltenden Proteste auch einen Richtungsstreit der Gesellschaft symbolisieren: Ausgetragen zwischen dem säkularen und eher links geprägten Teil der Gesellschaft, der für sich beansprucht, den Staat Israel aufgebaut zu haben, und dem konservativen und religiös geprägten Teil, die dazu laut Itzak genauso ihren Beitrag geleistet hätten.

Ido Emanuel, Reservist und Cafébetreiber, vertraut seinen palästinensischen Angestellten „zu 100 Prozent“

Die häufigen Straßenabsperrungen und dieser ständige Krach, der dazu samstags vor Sonnenuntergang und dem Schabbat-Ende mit den Aufbauarbeiten der Bühne beginne, störe die angehende 37-jährige Musiktherapeutin. Und auch viele andere im Viertel, die ihrem Unmut etwa in Gruppen in den sozialen Netzwerken Luft machen oder an ihren Häusern Plakate aufhängen, um daran zu erinnern, dass auch kleine Kinder in der Nachbarschaft leben, die nicht schlafen könnten.

Einmal, im April, habe Itzak eine Anfrage des rechten israelischen Fernsehsenders Channel 14 erhalten, als Freiwillige die Proteste zu filmen. Itzak zeigt die Videos auf ihrem Handy, die sie damals gemacht hat. Darauf sind rennende Demonstrierende zu sehen und Polizisten auf Pferden, von denen eines Itzak beim Filmen gefährlich nahekommt. Ein Mann aus der Menge hätte sie an diesem Abend beschimpft. Sie sei so verärgert darüber gewesen, dass sie auf ihrem Balkon die Musik laut aufgedreht habe. Einer der Songs hätte von Gusch Katif gehandelt, einer israelischen Siedlung im Gazastreifen, die 2005 vom Militär geräumt wurde. Erst als die Polizei an ihre Tür klopfte, hätte Itzak die Musik ausgemacht. „Was ihr in Europa nicht versteht, ist, dass wir hier einen Kampf zwischen Gut und Böse führen“, sagt Itzak. Der Gazastreifen gehöre unter israelische Administration, jene „Araber“, denen das nicht passe, müssten das Gebiet eben verlassen. So sieht sie das.

Bei der Demonstration, die die taz Ende September besucht, bleibt es weitestgehendfriedlich. Einige Demonstrant:innen entfachengegen Ende der Reden der Geiselangehörigen im hin­teren Teil der Menschenmenge ein kleines Feuer auf der Straße. Im kühlen Jerusalemer ­Herbstwind ­wärmen sich einige Menschen die Hände daran, bevor es Polizisten mit einem ­Feuerlöscher ausmachen. Als nach zweieinhalb Stunden Protest die Lautsprecher wieder abgebaut werden und sich die Straße mehr und mehr leert, bleibt davon nur noch eine dunkle Pfütze zurück.