berliner szenen: Tigerente auf Bürgersteig
Heute bin ich leutselig. Der erste Mensch, der davon eine volle Ladung abbekommt, ist der Typ, der mir da gerade mit einem überdimensionalen Stofftier auf der Weichselstraße entgegenkommt. Vollkommen cool und normal in Nord-Neukölln. Wir sind hier Schlimmeres gewohnt. Obwohl – Stofftier? Was genau ist das für eine Plüschkreatur, die mir in der Gesellschaft eines alten Mannes mit Zopf am hellen Mittag entgegenschwankt? Wie beschreibe ich das? Ein Neuköllner Rentner, der mit fast mannshohem Pferd, Pony, Tigerente, Zebra unterwegs ist. Aber Zebras sind doch nicht braun?
Wie dem auch sei und was immer der Mann da heranschleppt, ich bin – wie gesagt – leutselig, und die Bemerkung muss jetzt einfach mal raus: „Ich frag Sie jetzt nicht, was das ist“, höre ich mich selbst sagen, und frage mich im nächsten Augenblick, warum. Leider verstehe ich keine Silbe der Antwort. Fehlende Zähne. Verschluckte Zunge. Möglicherweise kein Publikumskontakt in den letzten zehn Jahren. Was auch immer – der Mann mit dem Stoffviech ist durchaus mitteilungsbereit, aber komplett unverständlich. Er benutzt eine Sprache, die ich nicht verstehe, die aber sehr viele Vokale enthält. Da ich ihm die Gelegenheit zur Selbstäußerung verschafft habe, muss ich da jetzt durch. Die Zeit bleibt stehen.
Nachdem alle Farbe der Welt getrocknet ist, die Glocken von der Sankt-Martin-Kirche an der Fuldastraße mehrmals geläutet haben und in China diverse Säcke Reis umgefallen sind, habe ich dann trotz vieler Os und Us doch verstanden, dass er große Plüschtiere sammelt. Dass man solche oft auf der Weserstraße im Müll findet. Dass seine Wohnung mit den Dingern voll ist, aber dieses Stoffwesen irgendwo im Flur noch Platz finden wird. Ist halt doch interessant, was die Nachbarn so machen.
Tilman Baumgärtel
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