Ausgehen und rumstehen von Sophia Zessnik
: „Kraaaaaan“ oder der Geruch nach Kohleöfen

Foto: privat

Ein kleines Mädchen schaut aus dem Rückfenster eines Autos. Den leicht melancholischen Blick in die Ferne gerichtet, lehnt sie einen Arm gegen die Heckscheibe wie zum Abschiedsgruß. Neben dem Mädchen ein Bürgersteig, auf dem eine weißhaarige Frau zwei Häuserfassaden passiert. Während die eine renoviert in neuem Glanz erscheint, eine Satellitenschüssel als Zeichen der Postmoderne im Fenster, ist der Eingang des Nebenhauses zugemauert: Fenster ohne Glas, Einschusslöcher und bröckelnder Putz.

Die 1997 von Ostkreuz-Fotografin Jordis Antonia Schlösser in Lichtenberg aufgenommene Szenerie ist Teil der Ausstellung: „Träum weiter – Berlin, die 90er“, die sich dem vielleicht aufregendsten Jahrzehnt der Hauptstadt widmet. Zumindest in meiner kindlichen Erinnerung war es das, denke ich, während ich durch die Räume des c/o wandle.

„Kraaaaaan“ möchte ich immer wieder aufgeregt rufen, so wie ich es als kleines Kind machte, wenn meine Mutter und ich quer durch die frisch vereinte Stadt fuhren. Von ihrer Uni in Dahlem nach Pankow, wo es keinen Telefonanschluss und Ofenheizung gab. Eine Achterbahn der Emotionen waren diese Autofahrten, an denen ich wie das Mädchen bei Schlösser an der Autoscheibe klebte und in Ekstase geriet, sobald die Ungetüme aus Stahl vor mir auftauchten. Verschwanden sie wieder hinter einer Häuserschlucht, muss auch mein Blick voll Melancholie gewesen sein.

Als „Transitraum zwischen Vergangenheit und Zukunft“ beschreiben die Ku­ra­to­r*in­nen das Berlin der Neunziger. Ich möchte rein in diesen Transitraum, möchte zeitreisen in das, woran ich nur noch bruchstückhafte Erinnerungen habe. M. begleitet mich bei meiner Alltagsflucht. Vor Fotos der Loveparade bleiben wir stehen, schwelgen in Erinnerungen an unsere Eltern, die uns auf den Schultern trugen oder uns Trillerpfeifen verkaufend durch die Menge lotsten. Bei Fotos aus der berüchtigten Nachwende-Technoszene lassen wir gedanklich Nächte im „Tresor“ wiederaufleben, auch wenn wir dessen Originalstätte im Keller einer ehemaligen Wertheim-Filiale nicht mehr kennen. „Untsss, untss, umpf, umpf“, hämmert ein imaginärer Technosound in meinem Kopf. Mir fehlt die musikalische Untermalung, ein Sound, der diese fotografische Zeitreise lebendig macht.

Klanglich belebter ist es einen Tag vorher im Ballhaus Ost. „Antikapitalista“, rufen Menschen, wo meine Zeitreise beginnt: in „Helmitropolis“, einer aus Schaumstoff nachgebildeten Utopie des einst größten urbanen Spielplatzes. „Alle machten Theater“, sagen die Darstellenden und rekapitulieren eine Zeit, in der es „chaotisch, aber wunderbar“ war. Fotoprojektionen füllen die Wände, wieder graubraune Häuserfassaden und ein mit Bitumenbahnen ausgelegtes Dächermeer. Unweit von hier habe ich oft auf einem dieser Dächer gespielt, mit S., deren Vater und andere ein Haus in der Dunkerstraße besetzt hatten. Diese Zeit riecht nach Kohleöfen und schmeckt nach Fassbrause.

Die Wandprojektion verändert sich, wie es auch Berlin getan hat. Hochglanzfassaden umringen uns, hier im Ballhaus spiegelt sich die Welt von heute, größtenteils versiegelt und privatisiert. „Die anderen sind reich jetzt und ich kann nicht mehr“, sagt einer der Helmis, der vor all dem Stahl und Beton seltsam aus der Zeit gefallen wirkt.

„Als die Mauer fiel, war das wie ein Orgasmus aus Freiheit und Kreativität, eine Eruption, eine Explosion“. Die Stimme kommt aus meinem iPad und gehört zu einer Serie in der ZDF Mediathek. Zwei Tage unterwegs gewesen, bin ich erschöpft, erlebe die Stadt nun von meinem Sofa aus. „This is gonna be great“, erzählt von einem Niederländer, der nach Berlin zieht. „Das ganze Spreeufer war voll mit seltsamen Clubs. Jetzt sind es nur Büros und Luxusappartments“, die Darstellerin in der Szene klingt ähnlich wehmütig, wie ich mich nach meiner Zeitreise fühle.

Draußen zieht die Berliner Nacht vorüber. Bässe wummern. „Money can't buy us happiness. Can we all slow down and enjoy right now?“, dringt die Stimme von Jessie J hoch zu mir in den vierten Stock.