Die Subversion des Vierzeilers

Clemens J. Setz erzählt in „Das All im eignen Fell“ die kurze Geschichte der Twitterpoesie und beklagt die Algorithmen des Verschwindens

Von Uwe Mattheiß

Wiederholt räsonierte der Schriftsteller Clemens J. Setz darüber, Gedichte nicht mehr in Büchern zu veröffentlichen, sondern vorzugsweise in den Mikroblogging-Formaten digitaler Medien. Warum sollte das menschliche Bedürfnis, sich über in Form und Inhalt überstrukturierte Sprachgebilde mitzuteilen, weiter mit dem Bedrucken von Papier verbunden bleiben? Die Entfaltung der Produktivkräfte induziert auch neue Formen der ästhetischen Praxis.

Mit „Das All im eignen Fell“ hat er nun doch Teile seines dichterischen Œuvres zwischen Buchdeckel gezwängt. Er verbindet das mit einem klug mäandernden Essay, der „Twitterpoesie“ auch theoretisch zu greifen versucht. Das alles dient der Beweissicherung im Flüchtigen. Funkelnde „poetische Wunderkerzen“ will er den Algorithmen des Verschwindens und der automatischen Löschung scheinbar inaktiver Accounts entreißen. Indem er über sie schreibt, führt er sie dann doch einer literaturbetrieblichen Aufmerksamkeit zu, die ihre Ur­he­be­r:in­nen gar nicht angestrebt hatten.

Setz blendet zurück ins vergangene Jahrzehnt, als noch ein niedlich-bauchiges blaues Vögelchen Twitter repräsentierte, nicht das martialische weiß-schwarze An­dreas­kreuz von „X“. Die Begrenzung auf 140 Zeichen zwang zur Entschlackung der Sprache und zur Zuspitzung der Gedanken. Brillante Apho­ris­ti­ke­r:in­nen begaben sich in halbanonymen Accounts auf die Spuren von Gertrude Stein oder Friederike Mayröcker, koppelten triviale Elementarsätze zu new sentences, die in der Kollision Abgründe von Bedeutungsverschiebungen aufreißen, trefflich dazu geeignet, Chaos in die Ordnung binärer Zeichenfolgen und die Sprache der Optimierung von Reichweite und ihrer Monetarisierung zu bringen. Hinter noms de guerre wie @susibumms, @carlsparla oder @donculotte öffnete sich ein umfangreicher Textkorpus, dem Clemens J. Setz in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrzehnts fast täglich „folgte“.

Digitale Kommunikation schafft ihre eigene Zeit. Die Lakonie der poetischen Intervention kontrastiert ihre Beschleunigung: „ein Jahr im Internet sind sieben Menschenjahre“ schreibt Carla Kaspari. Luni, für Setz ein rimbaudhafter Held im Digitalen, der von X dauerhaft gesperrt wurde, weil er sich erfrechte, Elon Musk lächerlich zu machen, produziert semantische Kurzschlüsse durch Unschärfen in Grammatik und Morphologie. „Jetzt mit mein Spazierstock Frösche aufspießen/wie so geisteskranke Herr Baron“. Im Geiste Lunis dichtet Setz weiter: „Saxofone letztendlich/auch nur/Ritterrüstungen/für Aale“.

In der Twitterpoesie verwirklicht Setz auch seine Vorliebe für gebundene Rede und treibt die Disziplinierung des Denkens weiter durch Reim und regelmäßige Metren. Die Beschränkungen der Abstraktion verschaffen ungeahnte Freiheit, im Vierzeiler entdeckt er subversives Potenzial. Schemata und Gebrauch der Reime verweisen bei ihm vielfach ein Jahrhundert zurück zu den Exponenten einer Neuen Sachlichkeit. Wie diese will Setz die Dichtung vom Weihrauch ums lyrische Ich befreien. Die subjektive Reflexion ist längst in die Prosa abgewandert oder ins bekenntnishafte Sachbuch.

Clemens Setz: „Das All im eignen Fell. Eine kurze Geschichte der Twitter­poesie“. Suhrkamp Verlag, Berlin 2024. 192 Seiten, 23 Euro

Aber die Party ist vorbei, das Zeichenlimit gefallen, ganze Werk­jahrgänge unwiederbringlich gelöscht. Twitterpoesie, die Setz – soweit noch vorhanden – unter dem Rettungsschirm des Literaturbetriebs sichern will, krankte wie andere Usergruppen daran, die Metapher der Plattformoberflächen für bare Münze zu nehmen. Ökonomisch und nicht diskursgetrieben bieten sie gerade kein Level Playing Field für Avatare kommunikativen Handelns.

Die Freude über die Unabhängigkeit von den Produktionsmitteln des etablierten Literaturbetriebs weicht bald der Erkenntnis, schon vorab der Produktionsmittel beraubt zu sein. Als Monopole funktionieren Plattformen am besten, demokratieverträglich wären sie damit nur als Gemeineigentum. Die „Redefreiheit“ der Tech-Entrepreneurs, die die einstigen New Frontiers des Digitalen kolonisiert und monopolisiert haben, ist nicht die, die in den Verfassungen steht. Sie ersetzt Politik durch Technologie und hinter der Technologie bleibt Gesellschaft als Aushandlungsprozess widerstreitender Interessen außer Sicht.

Digitale Poesie, die den Namen verdient, wäre dagegen eine, die die kommodifizierten Häppchen nicht einfach schluckt, die Funktion der Technik und ihre gesellschaftliche Wirkung reflektiert, bis in den Maschinencode vordringt und darin undokumentierte Funktionen freilegt zu prozessualem Arbeiten, Interaktivität und hypertextuellen Verknüpfungen. Sie gibt es in großer Vielfalt seit den ersten Tagen des Computers. Clemens J. Setz hat ein interessantes Buch geschrieben. Aber das Neue darin ist nur eine Fußnote im digitalen Kapitalismus.