Läuft und läuft

Der 1. Berlin-Marathon vor 50 Jahren war ein kleines Randevent für Freizeitläufer mit Spaß an der Sache. Heute ist er ein kommerzielles Großereignis mit weltweiter Ausstrahlung. Berühmte Profis sind dabei, aber immer noch viele Amateure

Martin Teague trägt hier das T-Shirt, das er schon 1974 beim 1. Berlin-Marathon an hatte Foto: privat

Aus Berlin Jens Uthoff

Es ist ein kleiner Läuferpulk, der sich da am 13. Oktober 1974 um 9 Uhr auf der Waldschulallee vor dem Mommsenstadion in Charlottenburg an der Startlinie einfindet. 286 Läu­fe­r:in­nen warten an einer Kreidelinie auf den Startschuss, in kurzen Polyester-Laufhosen, Leggins und Trägershirts, die Startnummern auf die Brust gepinnt. Gleich beginnt der 1. Berliner Volksmarathon.

Martin Teague ist aufgeregt an diesem Morgen. Er ist 23 Jahre alt, läuft zum ersten Mal einen Marathon, geht mit der Nummer 6 ins Rennen. Teague ist als amerikanischer Soldat in der Berlin-Brigade in Lichterfelde stationiert, er trägt ein Shirt mit der Aufschrift „Armed Forces Berlin“. Er und neun seiner Kameraden stehen an der Startlinie, wochenlang haben sie trainiert. „Wir wussten nicht, was uns erwartet“, erinnert er sich heute. „Wir haben uns gemeinsam aufgewärmt, einige Liegestütze gemacht und uns vor dem Start ein paar aufmunternde Worte zugerufen.“ Teagues neue Laufschuhe, die besten zu dieser Zeit, sind flach und leicht wie Pantoffeln, sie sollen ihn nun 42,195 Kilometer weit tragen. „Wir standen dicht gedrängt auf der Straße. Dann hörte ich einen Startschuss und wir liefen los.“

Auch Jutta von Haase startet an diesem Oktobertag auf der Strecke. Die Westberlinerin hat schon eine Karriere als Leistungssportlerin hinter sich, gehört zu den besten 800- und 1.500 Meter-Läuferinnen der BRD. Jutta von Haase ist 34 Jahre alt, es ist ihr erster Marathon. „Es hatte sich herumgesprochen, dass es diesen Marathon geben würde. Ich ging zu einem Schnuppertraining des SCC Berlin. Dort traf ich auf einige Urgesteine des Berliner Laufsports wie Fritz ‚Bubi‘ Orlowski. Als der mich sah, machte er große Augen und fragte: Was machst du denn hier, willst du etwa mitlaufen?“

Der erste Berliner Marathon, veranstaltet vom Sport-Club Charlottenburg Berlin (SCC Berlin), ist eine Nischenveranstaltung für einige wenige Laufbegeisterte, ein Randevent. Die Strecke führt teils über Bürgersteige, zwei Runden à knapp 21,1 Kilometer werden gelaufen, durch den Grunewald und an der Avus entlang, bis zum Strandbad Wannsee und zurück. Das Startgeld: 12 D-Mark. Wenige Zuschauer verfolgen das Rennen, fünf Polizisten sichern das Geschehen, immerhin gibt es Wasser für die Läufer:innen. Dass dies der Anfang der Geschichte der größten Laufveranstaltung Deutschlands sein wird: kaum vorstellbar.

„Das war ein Freizeitlauf, es ging um den Spaß am Laufen. Heute ist die Veranstaltung unglaublich kommerzialisiert, das war damals nicht zu erahnen“, sagt Jutta von Haase. Sie lebt in Zehlendorf, ist zum Gespräch in ein Café am Bundesplatz gekommen. Von Haase, 84 Jahre alt, hat eine gesunde rote Gesichtsfarbe, ist schlank, wirkt noch immer sportlich. „Wir liefen damals fast ohne Zuschauer durch den Grunewald. Es gab keine Ablenkung, keinen Applaus, nichts.“

50 Jahre später, im September 2024, ist genau eine Sache noch gleich: die Distanz. Sonst ist alles anders als damals.

Aus einem Westberliner Lauf wurde ein Gesamtberliner Marathon, der Wettbewerb wechselte mehrmals die Strecke, wanderte von der Peripherie zunächst ins Zentrum Westberlins, später in die Mitte der wiedervereinigten Stadt. Jedes Jahr, abgesehen vom ersten Coronajahr 2020, fand der Berlin-Marathon seither statt. Kommendes Wochenende zum 50. Mal.

In all der Zeit wuchs und wuchs und wuchs der Lauf. Veranstaltet wird er heute von SCC Events, der ausgegliederten Eventfirma des Sport-Clubs Charlottenburg, einem Unternehmen für Laufveranstaltungen mit über 90 festangestellten Mitarbeiter:innen. Der Teilnahmebetrag liegt dieses Jahr bei 205 Euro.

Über 50.000 Läu­fe­r:in­nen sind dieses Jahr zum Jubiläum angemeldet, zum Programm gehören ein Inlineskating-Rennen, ein Rollstuhlfahrer- und Handbiker-Wettbewerb sowie ein Bambini-Lauf – ein 5-Kilometer-Lauf und ein Mini-Marathon (4,2195 Kilometer) für Kinder und Jugendliche.

Das Megaevent legt heute an zwei Tagen den Verkehr der Stadt lahm, Hunderttausende schauen zu. Schon lange kommt die Marathon-Weltelite jährlich nach Berlin. Auch, weil auf der flachen, schnellen Strecke oft Bestzeiten gelaufen werden. 13 neue Weltrekorde haben Läu­fe­r:in­nen schon beim Berlin-Marathon aufgestellt, zuletzt die Äthiopierin Tigist Assefa im vergangenen Jahr. Sie verbesserte den Frauen-Weltrekord auf fantastische 2:11:53 Stunden.

1974 steckt Marathon als Breitensport noch in den Kinderlaufschuhen. „Es gab keine Energy-Gels, niemand hatte Verpflegung mit auf der Strecke. Wir achteten nicht auf unsere Ernährung, wir passten nicht auf, wie viel Kohlen­hy­drate oder Proteine wir zu uns nehmen“, sagt Martin Teague im Gespräch mit der wochentaz via Zoom aus Chicago. Teague erinnert sich an Kleinigkeiten des Rennens: wie er von der Straße auf den Bürgersteig läuft, Bordsteine überschreitet, wie er zusammen mit drei ­anderen Army-Kameraden bis zu den letzten Kilometern läuft.

„Von dem Mann mit dem Hammer hatten wir da noch nichts gehört“, erzählt Martin Teague. Der Mann mit dem Hammer, so nennen Läu­fe­r:in­nen den Leistungseinbruch, der nach Kilometer 30 oft durch einen Kohlenhydratmangel verursacht wird.

Teague hat eine besondere Verbindung zu Berlin. Er stammt aus Santa Monica in Kalifornien, nach dem College meldet er sich 1971 im Alter von 20 Jahren freiwillig für die Armee. Ab 1972 ist er einer von etwa 250.000 in Westdeutschland stationierten US-Soldaten, er wird nach Berlin-Lichterfelde in die Andrews Barracks beordert, bis 1975 bleibt er in der Mauerstadt.

Sein Aufenthalt in Westberlin soll prägend bleiben für sein weiteres Leben. Hier lernt er seine Frau, ebenfalls US-Amerikanerin, kennen, fünf Monate vor dem Marathon heiraten sie. „Unser ganzes Gefühl für die Welt beginnt in und mit Berlin“, sagt er. „Wir haben unseren ersten Sohn Andrew genannt, nach den Andrews Baracks. Unserer Tochter haben wir den Namen Petra gegeben, nach einem deutschen Mädchen, das wir kannten. Die Namen unserer ersten beiden Kinder haben einen direkten Bezug zu Berlin.“

Dabei landet Teague eigentlich eher zufällig beim ersten Berlin-Marathon. 1974 qualifiziert er sich für das Berlin-Brigade-Marathonteam der US-Army. Ziel des Teams ist ursprünglich ein Marathon in Athen, an der Urstätte des 42,195-Kilometer-Laufs. Doch wegen des Zypernkonflikts sagt die US-Army die Reise nach Griechenland aus Sicherheitsgründen ab. Der Ersatz: Ein obskurer neuer Waldlauf in Berlin, ins Leben gerufen von einem Laufenthusiasten.

Konditor und Leichtathlet

Dieser Laufverrückte ist der Tempelhofer Konditor, Kaufmann und Leichtathlet Horst Milde, Jahrgang 1938. Milde ist damals Vorsitzender der Leichtathletikabteilung des SCC Berlin, er war selbst erfolgreicher Mittel- und Langstreckenläufer. Von Mitte der Sechziger an veranstaltet er Freizeitläufe in Westberlin: einen Crosslauf im Grunewald, einen 10-Kilometer-Volkslauf, 25 Kilometer Volkswandern. Nun will er auch einen Marathon nach Westberlin bringen.

„Wenn ich Sachen sehe, will ich sie immer selbst machen“, sagt Milde, heute 85, der wochentaz am Telefon. „‚Mit den Augen stehlen‘, nenne ich das.“ Ein Jahr vor der Gründung des Berlin-Marathons gibt es einen Langstreckentag des SCC mit 92 Läu­fe­r:in­nen ­– Milde nimmt sich vor, zum 1. Volksmarathon im Folgejahr mehr Teil­neh­me­r:in­nen auf die Strecke zu bringen und hat damit Erfolg. Sein nächstes Ziel ist es, den Berlin-Marathon auf die Straße, mitten in die Stadt zu bringen.

Vorbild diesmal: ein Straßenlauf in Paris und ein 25-Kilometer-Lauf durch Westberlin, initiiert von den französischen Alliierten. Milde ringt für sein Vorhaben mit den Behörden – und siegt. 1981 startet der Marathon vor dem Reichstag und endet auf dem Kurfürstendamm. „Damals bin ich noch mit dem Auto durch Westdeutschland gefahren und haben die Ausschreibung verteilt“, erinnert er sich. „Ohne das Engagement von Horst Milde wäre die Laufbewegung in Deutschland wohl nicht so populär und erfolgreich gewesen“, sagt auch Jutta von Haase.

Die Marathons in New York – seit 1970 – und Berlin setzen nun einen Trend, sie erreichen immer breitere Läuferkreise, zahlreiche weitere Laufveranstaltungen in den Metropolen sollen in den Achtzigern folgen. Zwar gab es allererste City-Marathons in den USA schon um die Jahrhundertwende (1897 in Boston und 1905 in Chicago), aber vor allem für die Laufelite. Erst jetzt, in den Siebzigern und Achtzigern des 20. Jahrhunderts, wird Marathon ein Event für Hob­by­sport­le­r:in­nen, ein Sport für die Masse.

Horst Milde bleibt bis 2003 Veranstalter und Renndirektor, ihm folgt sein Sohn Mark Milde, der bis heute diese Position innehat. Die Streckenführung wird 2003 geändert, seither ist das Ziel am Brandenburger Tor – der Kurs wird noch einmal schneller. Mark Milde gelingt es fortan, am laufenden Band Re­kord­bre­che­r:in­nen nach Berlin zu holen.

„So viel wie hier ist bei kaum einem anderen Marathon auf der Welt an der Strecke los“

Jutta von Haase

Bei der Premiere 1974 merkt Jutta von Haase, dass sie sich gut fühlt während des Rennens. „Ein Läufer, mit denen ich zusammen lief, sagte zu mir: ‚Jetzt lass uns mal langsamer machen.‘ Ich aber bin einfach im gleichen Tempo weitergelaufen.“ Dass sie die führende Frau ist, weiß sie auf der Strecke nicht. Nur etwa zehn Frauen sind angemeldet, acht werden es am Ende ins Ziel schaffen. 1974 liegt der Frauenanteil bei den Fi­nis­he­r:in­nen bei 3 Prozent, 2023 waren es 33 Prozent.

Frauen müssen sich damals die Teilnahme an den Wettbewerben noch erkämpfen. Beim Boston-Marathon 1967 mogelt sich die US-Laufpionierin Katherine Switzer in das Teilnehmerfeld, bei dem eigentlich nur Männer zugelassen sind. Auch bei den Crossläufen am Teufelsberg in Berlin sind von 1964 an zunächst keine Frauen vorgesehen – „Muss ich zu meiner Schande gestehen“, sagt Horst Milde heute.

Einige Läuferinnen haben trotzdem mitgemacht, sie haben sich ihr Recht mitzulaufen einfach genommen. Selbst Jutta von Haase als Spitzensportlerin muss zu dieser Zeit kämpfen, um zu ihrem Recht auf Leistungssport zu kommen. Von Haase arbeitet als Juristin. Zunächst sei ihr von ihrem kommunalen Arbeitgeber zugesichert worden, dass sie für den Leistungssport zeitweise freigestellt wird – später sei davon keine Rede mehr gewesen.

Den Berlin-Marathon läuft Jutta von Haase in den folgenden Jahren öfter. „Ich bin sechs Mal ins Ziel gekommen, ein- oder zweimal habe ich aufgegeben. An das eine Mal erinnere ich mich gut: Da habe ich so gefroren, dass ich zurückgelaufen bin. Ich wollte einfach nur schnell unter die heiße Dusche.“

Von Haase ist eine eigenwillige Type, die musikbegeisterte Läuferin erzählt auch, dass sie bei den langen Trainingsläufen allein immer Klaviernoten in der Hand gehalten habe, um diese zu lernen. „Sonst wäre mir zu langweilig gewesen.“ Eines ist ihr beim Marathon immer wichtig: Der Spaß an der Sache. „Heute machen manche Läuferinnen und Läufer den Eindruck, als hätten sie gar keine Freude am Laufen. Sie scheinen sich eher zu quälen, sehen auf den letzten Kilometern oft sehr elend aus.“

Martin Teague geht 1975 zurück in die USA, zunächst nach Kalifornien, später nach Chicago. Er arbeitet jahrelang in der Versicherungsbranche. Nach dem Berlin-Erlebnis läuft er sieben weitere Marathons. Auch nach Berlin kehrt er zurück. Zum ersten Mal 1998, als der Berlin-Marathon sein 25. Jubiläum feiert und er erneut mitläuft.

Die wiedervereinigte Stadt erkennt er in jenem Jahr kaum wieder: „Ich war beeindruckt von all den Bauarbeiten, überrascht von den Graffiti und auch ein wenig wehmütig, dass die Kaserne geschlossen und die Berlin-Brigade verschwunden war“, sagt er. „Wir haben das AlliiertenMuseum besucht, das uns gefallen hat.“ Teague läuft in dem Jahr mit der Startnummer „1974“, in Erinnerung an den 1. Volksmarathon.

Doch Teague will seine Berlin-Geschichte fortschreiben, dieses Jahr erneut zurückkommen. Am 29. September will er an den Start gehen, mit nun 73 Jahren, es ist sein erster Marathon seit mehr als zwanzig Jahren. „Ich habe das letzte halbe Jahr hart trainiert“, sagt er. Teague ist wieder aufgeregt. Er wird wieder die Startnummer 6 tragen, ein kleines Jubiläumsgeschenk des Veranstalters.

Jutta von Haase, Siegerin des 1. Berlin-Marathons 1974, mit ihrem Konterfei von einst Foto: Eberhard Thonfeld/imago

Jutta von Haase durchlebt mit Mitte 40 eine schwere Krankheit, danach läuft sie nur kürzere Strecken. Die Ärzte raten ihr davon ab, weiter Marathon zu laufen. Später widmet sie sich anderen Sportarten, spielt noch heute Tennis. Vielleicht wird sie zum 50. Jubiläum an die Laufstrecke gehen, zum Anfeuern.

Was den Kurs in Berlin für die Läu­fe­r:in­nen so attraktiv macht? „Hier kann man gute Zeiten laufen. Es sind doch sehr viele ehrgeizige Leute dabei, nicht nur bei den Spitzenläuferinnen und Spitzenläufern. Und die Stimmung ist wohl einzigartig in Berlin, so viel wie hier ist bei kaum einem anderen Marathon auf der Welt an der Strecke los.“

Am 13. Oktober 1974 bringt Jutta von Haase die Führung ins Ziel. Sie ist die erste Siegerin des Berlin-Marathons, kommt nach 3 Stunden, 22 Minuten und 1 Sekunde ins Ziel. „Ich habe mich an dem Tag einfach gut gefühlt“, sagt sie, „ich hatte keine Schmerzen während des Laufs, ich habe sehr viel Freude dabei empfunden.“

Als Martin Teague an diesem Tag nach 3 Stunden, 31 Minuten und 25 Sekunden ins Ziel kommt, wartet dort seine Frau Jane Teague auf ihn. „Ich weiß noch, wie ich erschöpft und erleichtert die Ziellinie überquerte und dann noch ein paar Schritte weiterging, um sie zu umarmen.“

Erst viele Jahre später stellt er fest, dass er mit 285 anderen Star­te­r:in­nen Laufgeschichte geschrieben hat. 244 von ihnen erreichen das Ziel in dem Jahr, als der Berlin-Marathon laufen lernte.