Satz mit X

Der Boomer Friedrich Merz wird Kanzlerkandidat der Union. Die Generation X um Hendrik Wüst steht doof da. Und daran wird sich nie etwas ändern

Wird niemals Kanzler weil falsche Generation: Hendrik Wüst Foto: Federico Gambarini/dpa/picture alliance

Von Matthias Kalle

Die eigentliche Tragik des Hendrik Wüst besteht nicht darin, dass er 2025 auf gar keinen Fall Bundeskanzler wird. Sie besteht darin, dass er niemals Bundeskanzler werden wird. Wahrscheinlich nicht einmal Kanzlerkandidat. Vielleicht wird er Bundesminister, Justiz oder so. Mehr wird für ihn aber nicht drin sein.

Das liegt nicht an seinen Fähigkeiten – der Mann ist seit drei Jahren Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen, regiert jetzt also auch kein ganz kleines Land. Dort hat Wüst übrigens gemeinsam mit seinen grünen Partnern im Koalitionsvertrag das Prinzip „Bleiberecht vor Abschiebung“ verankert, und das klingt ja auch erst einmal besser als so ziemlich alles, was man in den vergangenen 30 Jahren von Friedrich Merz gehört hat. Vor allem in den letzten Tagen, als er versucht hat, die AfD mit Karacho rechts zu überholen.

Hendrik Wüst jedenfalls wird niemals Kanzler werden, weil er im falschen Jahr geboren wurde, 1975 nämlich. Wüst gehört damit zur Generation X, der wahrscheinlich enttäuschendsten Generation der Bundesrepublik. Ich darf dieses Urteil fällen, denn Wüst und ich sind derselbe Jahrgang. Wir teilen, wenn man so will, das gleiche Schicksal. Da, wo wir hinwollen, sitzt schon ein Boomer, und im Vorzimmer dieses Boomers sitzt schon ein Millennial, der auf seinen Posten geiert und davon ausgeht, dass wir frustriert aufgeben. Die Generation X wird es niemals ganz nach oben schaffen.

Dazu eine kurze Begriffserklärung: „Generation“ bezeichnet Menschen, die „als Altersgruppe in ihrer Gesellschaft oder aufgrund der gemeinsamen Prägung durch eine spezifische historische oder kulturelle Konstellation eine zeitbezogene Ähnlichkeit aufweisen“ (Wikipedia). In der Bundesrepublik haben wir es zurzeit im Großen und Ganzen mit folgenden Generationen zu tun: den Boomern (1946–1964), der Generation X (1965–1980), den Millennials (1980–1996), Generation Z (1997–2012) und Generation Alpha (ab 2013).

Friedrich Merz wurde 1955 geboren, ein Boomer, wie er im Buche steht. Boomer sind wie Schwämme, aus denen man noch den letzten Rest Flüssigkeit rauspresst, und wenn sie schon fast trocken in der Ecke liegen, versucht man noch mal, das Konrad-Adenauer-Haus mit ihnen zum Glänzen zu bringen.

Die Boomer sind nach wie vor die Generation, die das Land prägt. Sie sitzen im Kanzleramt (Olaf Scholz ist Jahrgang 1958), in den Chefredaktionen und Aufsichtsräten – manche teilweise länger, als sie sollten. Es könnte deshalb sehr gut sein, dass sie nicht von Vertretern der Generation X abgelöst werden, sondern gleich von den Millennials. Die Gen X ist nämlich die verlorene Generation. Das schien mal anders zu sein, aber auch damals war es eine Lüge. Eine Lüge der Boomer, die sie der Generation X erzählt haben. Die Lüge geht so: Ihr seid die hoffnungsvollste Generation, die dieses Land jemals hatte! Ihr werdet einmal alles anders und alles besser machen als wir. Ihr kennt weder Mangel noch Krieg! Ihr habt alles, was ihr braucht, um glücklich und erfolgreich zu werden!

Und tatsächlich: Keine Generation (es geht in diesem Fall um Westdeutschland, weil die Protagonisten, um die es geht, westdeutsch sozialisiert sind) fand bessere Startbedingungen vor. Die Xler wuchsen ohne Not, Krieg und Leid in einer der stabilsten und reichsten Demokratien der Welt auf. Die Bildungschancen waren fast optimal, Generationenkämpfe nicht mehr zu ­erwarten. Wenn die Generation X für etwas war (Umweltschutz) oder dagegen (Neonazis, Irakkrieg), dann demonstrierte sie friedlich und kreativ und passte auf, dass sie nichts kaputt machte. Sie verstand sich mit ihren Eltern, mit ihren Lehrern und Dozenten.

Wüst scheint ein Prototyp der Generation X zu sein. Er wuchs in Rhede auf, wo er heute noch lebt. 20.000 Einwohner zwischen Borken und Bocholt, es geht kaum westfälischer. Wüst sagt „mach“, wenn er „mag“ meint. In einem Fernsehporträt, das der Journalist Markus Feldenkirchen im Sommer über Wüst angefertigt hat, kommt eine CDU-Weggefährtin aus Wüsts Jugend zu Wort. Forsch sei er gewesen, ein „kleiner Rebell“, ein „Frechdachs“, dabei immer im Anzug. Aktentasche mit 14, Junge Union mit 15, Jagdschein mit 16. Das ist eine typische Jugend in der westfälischen Provinz Ende der 80er Jahre. Christian Lindner ist ähnlich aufgewachsen, nur den Jagdschein hat er später gemacht.

Friedrich Merz erzählte mal von seiner wilden Jugend im Sauerland, Mofas hätten für ihn eine große Rolle gespielt. Wüst erzählt stattdessen, dass er selbst kein Mofa gehabt habe, aber Freunde von ihm. Manchmal, wenn er selbst auf dem Fahrrad saß, habe er sich mit der Hand auf der Schulter eines Freundes ziehen lassen. Das ist so seine Art von Rebellentum. Wüst spielte Handball und warf in sechs Jahren ein einziges Tor – das ist, als wäre man gar nicht auf dem Platz gewesen. Sein Abitur machte er mit 2,5.

Es scheint nicht so, als habe Wüst sich in seiner Jugend groß angestrengt, aber das hat ja auch kaum jemand aus der Generation X – die Zukunft lag ja golden schimmernd vor ihr.

Der Soziologe Heinz Bude sagte einmal, bei der Generation X sei alles ein bisschen müder, ein bisschen kleiner, ein bisschen langweiliger. Hinzu käme eine Art „ewige Postadoleszenz“. Nun ja. Bude, geboren 1954, ist selbstverständlich auch ein Boomer, und Boomer haben ihre Nachfolgegeneration nie sonderlich gemocht. Vielleicht schwingt auch ein bisschen Angst mit – Angst, wir könnten ihnen die Jobs wegnehmen oder ihr Geld oder ihre Macht. Boomer mögen Millennials lieber, weil die Millennials die lustigen Enkel und nicht die verzogenen Kinder sind. Millennials haben sich diese verrückten Social Media ausgedacht, und man gesteht ihnen eigene Kompetenzen zu. Die Xler sind zu nah dran an den Boomern und gleichzeitig zu verschieden. Wie ein Sohn, den man Friedrich junior nennt und sich dann wundert, dass er ein eigener Mensch ist.

Auch wenn Friedrich Merz eine angstgetriebene Politik macht, strahlt er die Arroganz der Macht aus, wie sie weißen Boomermännern eigen ist. Man muss davon ausgehen, dass Friedrich Merz im kommenden Jahr Bundeskanzler wird. Dann wird der Mann 69 Jahre alt sein. Bei einem CDU-Kanzler muss man mit dem Schlimmsten rechnen, nämlich damit, dass er mindestens zwei Legislaturperioden durchhält.

Dann wären wir im Jahr 2033. Wüst, Söder, Günther und Linnemann wären dann zwischen 56 und 66. Aber die ersten Millennials wären auch schon 53 Jahre alt und würden völligzu Recht eigene Ansprüche formulieren. Und sie wären auf diesen Moment besser vorbereitet, das waren sie schon immer.

Als die Grünen vor drei Jahren eine Person ins Kanzlerrennen schicken wollten, trat der Xler Robert Habeck gegen die Millennial Annalena Baerbock an. Die Entscheidung lag bei Baerbock, und sie entschied sich – klassischer, skrupelloser Millennialmove – für sich selbst, obwohl Habeck mit großer Wahrscheinlichkeit die bessere Wahl gewesen wäre. Habeck kämpfte nicht, er nahm es hin und ließ Baerbock den Vortritt.

Über Hendrik Wüst heißt es oft, er sei „strebsam“, „nett“ und „artig“, eine Art „Musterschüler“. Vor einem Jahr schrieb Wüst einen Gastbeitrag für die FAZ, in dem er Friedrich Merz und dessen Grundsatzprogramm mehr oder weniger offen angriff. Tja – so sind sie halt, die Xler. Kritisieren die Boomer, aber eher hintenrum. Die offene Konfrontation ist nicht ihre Sache, das ist eher ein Ding der Millennials, die weniger furchtsam sind. Und sie stehen auch nicht so unter dem Beliebigkeitsverdacht wie die Xler und ihr Klassensprecher Hendrik Wüst. Der ist zwar ein Konservativer, aber progressiv. Der hat in seinem Büro in der Düsseldorfer Staatskanzlei ein Böll-Zitat an der Wand hinter seinem penibel aufgeräumten Schreibtisch. Und im Sommer antwortete er auf die Frage, ob er eigentlich gerne Bundeskanzler wäre: „Ich bin gerade gerne Ministerpräsident.“

Friedrich Merz wäre seit 30 Jahren gerne Bundeskanzler. Jetzt, 2024, ist er schon mal Kandidat. Außerdem gehen Oasis wieder auf Tour, und Stefan Raab kehrt zurück. Das fühlt sich alles ein bisschen an wie 2001, als Hendrik Wüst 26 Jahre alt war und wie so viele andere aus seiner Generation von einer glorreichen Zukunft träumte. Der Traum ist aus.