Merzen in der Mitternachtssonne

Im Norden Norwegens baut Joar Nango ungewöhnliche, sich organisch verzweigende Räume. Nun wurde der samische Künstler in Hannover mit dem Kurt Schwitters Preis ausgezeichnet

Joar Nango arrangiert die Dingwelt anders. Fotografie einer Inszenierung, Ohne Titel, 2023 Foto: Joar Nango

Von Gaby Hartel

This is my favourite object in the Library“, sagt Joar Nango und greift nach einem Stapel Postkarten, den er zuvor in einer bricolage-artigen Behausung gesucht hatte. Bücher, Alltagsgegenstände und Werkzeuge sind hier mit gutem Gespür für den ästhetischen Gesamteindruck auf roh behauenen Holztischchen und rentierfellbedeckten Sitzgelegenheiten arrangiert. Das war vor ein paar Monaten, und der Künstlerarchitekt stand an dem für die Polarregion beunruhigend heißen Junitag auf den Stufen des frisch renovierten Stadtmuseums im norwegischen Bodø. Der lächelnde, sanft sprechende 45-Jährige mit dem langen, grauen Zopf ließ sich gerne unterbrechen von den ständig neu eintreffenden Freunden, Mitarbeiterinnen oder allgemein Interessierten.

Bodø, der einstige Nato-Luftstützpunkt am Vestfjord, setzt trotz Putins Angriffskrieg in der Ukraine nicht auf militärische Präsenz. Die Stadt teilt sich in diesem Jahr mit dem österreichischen Bad Ischl und dem estnischen Tartu den Titel „Kulturhauptstadt Europas“. Der 43.000 Einwohner zählende Ort kann eine stärkere Hinwendung zur Kultur tatsächlich gut gebrauchen. Denn nachdem er 1940 von der deutschen Luftwaffe fast völlig zerstört wurde, ist Bodø eher spröde wieder aufgebaut worden. Blanker Pragmatismus, so weit das Auge reicht: Hier die schmucklos- funktionalen Bauten der Nachkriegszeit, dort die No-nonsense-Einkaufspassage. Und am Hafen schimmern die in den späten 2000er Jahren entstandenen Hoteltürme in der Mitternachtssonne des Nordpolarkreises und warten auf Outdoor-Touristen.

„Kultur stärken“, das bedeutet für die Stadt neben einem schillernden Mega-Eröffnungsspektakel und einem großen Sonnwendfolklore-Mitmachevent, die Kunst der Sámi in den Blick zu nehmen. Es wurde auch Zeit für eine kulturelle Rückversicherung, denn Bodø liegt am südöstlichen Rand von Sápmi, wie die Region von Nord-Norwegen über Nord-Schweden, Nord-Finnland bis zu Teilen der russischen Kola-Halbinsel von ihren indigenen Bewohnern genannt wird. Der internationale Kunstbetrieb wurde erstmals 2017 mit der documenta 14 auf Ver­tre­te­r:in­nen dieser Bevölkerungsgruppe aufmerksam, als man in Kassel einen riesigen Vorhang und einen Rock aus Rentierschädeln der Künstlerin Máret Ánne Sara zeigte. Sie verwies damit auf die samische Wirtschafts-, Kultur- und Nahrungsquelle: nomadische Rentierhaltung.

Schon auf der documenta 2017 waren die künstlerischen Arbeiten geprägt von Aktivismus und Folklore. Durchaus nachvollziehbar bei einer Gruppe von Künst­le­r:in­nen, deren Familien und Vorfahren von Ver­tre­te­r:in­nen „westlicher“ Nationalstaaten das Recht auf kulturelle Eigenständigkeit abgesprochen bekamen. Doch besteht auch die Gefahr, dass der künstlerische Inhalt über den Verweis auf die Herkunft der Schöp­fe­r:in­nen nicht hinauskommt. Und da die Sámikunst boomt, kommt es zudem innerhalb der Community zu unschönen Rangeleien darüber, wer Same genug ist, um sich der eigenen Sache künstlerisch oder kuratorisch anzunehmen. Das Bodø-Museum stellte sich dieser Herausforderung zunächst einmal, indem es seinen Namen einen Sommer lang in samisch „Bådåddjo/Buvvda Musea“ umtaufte. Was wie eine salomonische Entscheidung aussieht, birgt jedoch die Gefahr, Künst­le­r:in­nen auf ihre Identität zu reduzieren.

Mit Joar Nango wurde allerdings ein Künstler-Architekt samischer Herkunft gezeigt, dessen Kunst über den bloßen Selbstausweis hinausreicht. Sein installatives Raumkunstwerk, das aus natürlichen Materialien besteht und im Zusammenspiel mit einem Künstler -und Handwerkerinnenteam gebaut, ausgestattet und arrangiert wird, konnte gerade in Bodø als Vorbild leuchten, weil dies eine Stadt ist ohne sichtbare gesellschaftliche, ökologische und architektonische Visionen und damit stellverstretend für viele Städte weltweit.

Nangos Talent legt etwas Belebendes, urmenschlich-Schöpferisches frei, das er in der spontanen Erfindung und handwerklich geschickten Anpassung der Samen an ihre Umwelt beobachtet hat. Der Künstler stammt aus Alta in Nordnorwegen und zeigt sich im Gespräch doch klar als Weltbürger, schnell bereit, die von ihm als „Indigenuity“ bezeichnete kreative Grundtugend der samischen ad-hoc-Erfindung als etwas Universelles zu würdigen.

Als Same ist Nango sozusagen von Hause aus nomadisch, und er hat dieses Mobilitätsprinzip ähnlich genutzt wie viele Künst­le­r:in­nen vor ihm: durch Studien in Norwegen, Deutschland und den USA und durch ein Pendeln zwischen Architektur und Kunst. Wenn er Anregungen aus der reichen, indigenen Tradition schöpft, so scheut er sich doch nicht, seine Inspiration auch in Vorbildern aus dem „Westen“ zu verorten. Das begann schon in seinen frühen Jahren als Graffittikünstler, später waren es die strengen Funk­tionsformen des Bauhauses, die Situationskomik des Dada-Künstlers Kurt Schwitters, Schöpfers der Idee des „merzens“, des Sammeln und Verbauens von Gefundenen zu räumlichen und bildlichen Collagen. Als Schülerjob führte Nango durch die Steinhütte von Kurt Schwitters, der bis zur Besetzung Norwegens durch die Nazis auf der Insel Hjertøya Zuflucht fand.

Die nomadische Bibliothek

Joar Nango unterwegs Foto: Knut Aeserud

All das erzählte Nango im Rummel der Vernissage seines „Girje Gumpi“ in Bodø, wie er sein ikonisches Raumprojekt, die nomadische Bibliothek, auch nennt. Seit 15 Jahren baut er diese Architektur gewordene Idee eines Denk- und Diskussionsortes in immer neuen Versionen: Mal wirkt die alles verbindende Struktur wie ein Schiffsrumpf, mal wie ein Walfischskelett aus Holz, mal wie eine Wurzelhöhle. In jedem Fall entsteht der Eindruck, als laufe man durch ein dicht verzweigtes, organisch gewachsenes Gebilde, das voller Überraschungen steckt. Dabei wird die Vorstellung von nachhaltigem Handeln, nachhaltigem Bauen und verantwortlichem Urbanismus direkt mit Händen greifbar. Das improvisierende Gestalten mit gefundenen Materialien wird genauso gefeiert wie das Herstellen von Gemeinschaft.

Beim Rundgang kommt auch der eingangs erwähnte Kartenstapel ins Spiel. Der ist gewissermaßen die Essenz von Joar Nangos Kunst. Es ist ein Set von 55 Fotos im Postkartenformat, zusammengehalten von einem Plastiknetz, das wir als Flaschen-Stoßschutz kennen. Wer die Karten auffächert, entdeckt eine beispiellose Fülle an umfunktionierten Dingen, die in ihrer Umwidmung ein Eigenleben, oft eine Eigenkomik entwickeln: die halbvolle Cola-Plastikflasche, die als Messer-Entroster dient, wirkt, als wolle sie sich eigenmächtig neuen Aufgaben zuwenden. Die reizvoll gesägten Baumstämme für die traditionelle Filzproduktion scheinen sich eitel ihrer Schönheit bewusst zu sein. Und ein rotierender Betonmischer mit angeschweißten, rot leuchtenden Metallflügeln hat als endlos rotierende Rentier-Scheuche etwas Absurdes.

All diese Dinge sind fotografisch so in Szene gesetzt, als seien sie stets als albern-künstlerische Werke intendiert gewesen. Anlässlich der Verleihung des Kurt Schwitters Preises 2024 an Joar Nango zeigt das Sprengelmuseum eine Schau des Künstlers. Hier schweben einige der beschriebenen Fotos auf weiße Fahnen gedruckt im Raum und sind zu weiteren Fantasieräumen oder lustigen Gebrauchsobjekten aus Metall, Fell, Holz oder Fischmagen in ästhetische Spannung gesetzt. Licht- und Schatten bringen das Raum­gefühl in produktive Unordnung. Sein „Girje Gumpi“ wird auf die Idee eines deutschen Hinterhofs übertragen, als Sammelbecken, Begegnungsort und ästhetisch geordnetes Chaos. Das alles ist durchwirkt von einer unterschwelligen Situationskomik. Kurt Schwitters hätte seine Freude daran.

„Joar Nango. Kurt Schwitters Preis 2024“: Sprengel Museum Hannover, bis 25. Januar 2025