(K)ein neues Leben

Der Hamas-Kritiker Hamza Howidy hat im Sommer 2023 Gaza verlassen. Er wollte sich ein neues Leben aufbauen und den Nahen Osten hinter sich lassen. Doch dann kam der 7. Oktober. Ein persönliches Protokoll

7. Oktober 2023: Durchbruch am Zaun an der Grenze Israel-Gaza Foto: Hani Alshaer/picture alliance

Als ich Gaza verließ, wollte ich mich eigentlich nicht mehr zum Konflikt zwischen Israel und Palästina äußern. Ich wollte ein neues Leben beginnen, arbeiten, vielleicht als Buchhalter, vielleicht etwas anderes. Das war im Sommer 2023. Von Ägypten aus flog ich in die Türkei und von dort kam ich dann nach Griechenland.

Dann kam der 7. Oktober.

Ich war gerade in einem Flüchtlingslager, als die ersten Nachrichten kamen. Als ich in den sozialen Medien von den Geiseln hörte, war mir klar, dass ich meinen Vorsatz, nichts mehr zur politischen Situation im Nahen Osten sagen zu wollen, nicht würde halten können. Ich sagte mir, es reicht, dass diese Terroristen die palästinensische Sache an sich reißen und sich als unsere Vertreter ausgeben. Ich wusste, dass diese Aktion eine Katastrophe für den Gazastreifen sein würde.

Also schrieb ich einen Post, in dem ich die Hamas und ihren militanten Flügel, die Al-Kassam-Brigaden kritisierte, genauer gesagt, ihren Sprecher, Abu Obeida. In dem Flüchtlingslager waren neben mir viele andere aus Gaza, für viele von ihnen ist Abu Obeida so etwas wie Gott. Einer von ihnen sah den Post, bedrohte mich und sagte, wenn ich noch einmal so etwas schreiben würde, dann würden sie mich töten.

2019 hatte ich die Proteste gegen die Hamas im Gazastreifen mit organisiert, im Geheimen. Wir haben uns nicht getraut, den Sturz der Hamas zu fordern, stattdessen war unser Slogan „Wir wollen leben“. Innerhalb eines einzigen Tages nahm die Hamas 3.000 Demonstranten fest, 3.000, das muss man sich mal vorstellen in diesem kleinen Stückchen Land. Und in Hamas-Gefängnissen hat man nicht das Vergnügen, einen Anwalt zu haben oder die Familie sehen zu können; und es gibt Folter. Zum Glück konnten meine Eltern das Geld aufbringen, um mich aus dem Gefängnis frei zu kaufen. Wer das Geld nicht hatte, blieb noch lange Zeit.

Einige Monate vor dem 7. Oktober, im Juni 2023, versuchten wir es noch einmal. Wir demonstrierten, die Hamas nahm uns fest, ich war alleine in einer Zelle ohne Toilette und mit einer Mahlzeit am Tag, die man nicht als Mahlzeit bezeichnen kann. Was mich wirklich frustrierte, war, dass die Medien kaum darüber berichteten. Nicht arabische Medien und nicht internationale. Auch von Hilfsorganisationen fühlten wir uns allein gelassen. Im Sommer 2023 bin ich geflohen.

Ich bin in einer relativ weltoffenen Familie groß geworden. Mein Vater hat viele Jahre in Großbritannien gearbeitet. Er war der Erste, der uns vor fanatischen Ideologien warnte.

Den Krieg von hier aus zu erleben und zu wissen, dass meine Familie dort ist, war furchtbar. Meine Mutter schrieb mir kurz nach dem Ausbruch des Krieges, dass dieser Krieg mit nichts vergleichbar sei, was sie bisher erlebt hätten. Die heftigen Bombardements, die schreckliche humanitäre Situation. Ich habe mir ständig Sorgen gemacht, wenn ich sie wegen der schlechten Internetverbindung nicht erreichen konnte.

Gleichzeitig erhielt meine Familie auch dort von Hamas-Anhängern Morddrohungen – wegen eines Artikels, den ich für Newsweek geschrieben hatte. Darin hatte ich die Bewohner des Gazastreifens dazu aufgerufen, von der Hamas zu fordern, die Geiseln freizulassen. Wenn schon nicht aus moralischer Verpflichtung, dann doch, um zu retten, was vom Gazastreifen noch übrig ist. Kurz vor der Rafah-Offensive im Mai konnte meine Familie nach Ägypten fliehen.

Ich bin im Februar dieses Jahres in Deutschland angekommen. Seitdem lebe ich hier in einem Flüchtlingslager, ich sage nicht, wo genau. Vor einigen Monaten gab ich CNN ein Interview und sagte, wo ich lebe, daraufhin bekam ich wieder Morddrohungen.

Kurz nach meiner Ankunft nahm ich an einem Seminar teil, in dem Israelis und Palästinenser in einem geschützten Raum über ihre Perspektiven auf den Konflikt sprechen konnten. Dort traf ich einen Israeli, mit dem ich mich anfreundete. Wir machten damals einen Spaziergang und stießen auf eine propalästinensische Demonstration. Einer von ihnen erkannte mich und rief den anderen zu: „Er ist Zionist!“ Ich bin sofort abgehauen.

Ich muss sagen, die heftigste Kritik kommt von den propalästinensischen Menschen in der Diaspora. Menschen aus Gaza schreiben mir oft, sie wünschten, sie hätten die Möglichkeit, das zu sagen, was ich sage.

Ich frage mich manchmal, ob ich zu einseitig kritisiere. Das kann sein. Aber irgendjemand muss das Eis brechen. Und ich glaube, es ist wichtig zu zeigen, dass nicht alle Palästinenser dieser Ideologie anhängen. Ich bin auch dadurch ziemlich einsam in dieser Zeit, könnte man sagen.

Meine Nachmittage nach dem Deutschkurs verbringe ich in der Bibliothek, um in Ruhe lesen zu können. Hier im Flüchtlingslager ist es so laut. Im Moment lese ich ein Buch, das mir ein Freund empfohlen hatte: „Über den Sinn des Lebens“. Ein Buch des Psychotherapeuten Viktor Frankl, der verschiedene Konzentrationslager überlebte. Irgendwie war mir schnell klar, dass ich es lesen sollte. Vielleicht weil ich denke: „Wenn er diese Konzentrationslager überlebt hat, dann kann ich das hier auch überleben.“

Die Sorge, mit der ich in diesen Tagen einschlafe und mit der ich aufwache ist: Was, wenn mein Asylantrag nicht angenommen wird? Wohin dann? Vielleicht zurück nach Ägypten zu meiner Familie. Und dann?

Ich hoffe, dass Gaza eines Tages zusammen mit dem Westjordanland und Ostjerusalem ein unabhängiger, palästinensischer und demokratischer Staat sein wird. Ich würde überglücklich in dieses Land zurückkehren.

Hamza Abu Howidy ist Palästinenser aus Gaza. Er lebt im Exil und ist Buchhalter und Friedensaktivist.

Protokoll: Judith Poppe