Wenn Solidarität bestraft wird

Es ist ein EU-weiter Trend: Immer mehr Geflüchtete, Mi­gran­t:in­nen und Hel­fe­r:in­nen werden wegen „Schlepperei“
unverhältnismäßig hart bestraft. Die Staaten wollen damit Stärke beweisen, doch damit vergrößern sie die Probleme

Bewaffnete Soldaten auf dem Öltanker „El Hiblu 1“, den Geflüchtete 2019 in Malta kaperten Foto: René Rossignaud/picture alliance

Von Christian Jakob

Am kommenden Dienstag steht der 60-jährige Homayoun Sabetara in Thessaloniki vor Gericht – mal wieder. Seit drei Jahren sitzt der krebskranke Iraner in Griechenland im Gefängnis. Er hatte 2021 versucht, aus Iran nach Deutschland zu seinen beiden Töchtern zu fliehen. Weil er das Auto steuerte, in dem er mit sieben anderen Menschen saß, wird ihm Schlepperei vorgeworfen.

„Ihm waren die Konsequenzen nicht bewusst“, sagt seine Tochter Mahtab, die sich seit Jahren öffentlich für die Freilassung ihres Vaters einsetzt. In erster Instanz wurde Sabetara – nach vier Terminverschiebungen – zu 18 Jahren Haft verurteilt. Der Prozess „zerstört alle mentalen Ressourcen der Angeklagten und ihrer Angehörigen“, sagt Mahtab Sabetara. Die Folge sei ein „mentaler Zusammenbruch“, Hoffnung werde zu „einem Wort, von dem man nur träumen kann“. Ohne Unterstützung von NGOs wäre es unmöglich, die Reisekosten nach Griechenland und die Anwaltsrechnungen zu bezahlen.

Anfang September präsentierte deshalb die NGO medico international in Frankfurt einen neuen „Fonds für Bewegungsfreiheit“. Der soll künftig die Rechtshilfe für Menschen mitfinanzieren, die wegen „Solidarity Crimes“ oder der eigenen Fluchtgeschichte als Schlepper vor Gericht stehen – wie Homayoun Sabetara. „Immer wieder werden Geflüchtete als Schleuser gebrandmarkt. Sie werden in juristischen Schnellverfahren zu überdimensionalen Haftstrafen verdonnert, ohne dabei auf einen adäquaten Rechtsbeistand hoffen zu können“, sagt Valeria Hänsel von medico.

Sie verweist darauf, dass der Straftatbestand der „Beihilfe zur unerlaubten Einreise“ teils strenger bestraft wird als Mord. Allein in Griechenland sitzen nach einem Bericht Zählung der NGO Borderline Europa über 2.000 Menschen aufgrund des Vorwurfs der „Beihilfe zur unerlaubten Einreise“ im Gefängnis. Die meisten von ihnen sind Geflüchtete. Borderline hat viele Prozesse besucht und ausgerechnet, dass nach Schnellverfahren von durchschnittlich rund 30 Minuten Dauer am Ende durchschnittlich 46 Jahre Haft und Geldstrafen von über 300.000 Euro stehen.

„Häufig verstehen die Angeklagten – auch aufgrund unzureichender Übersetzungen – bis zuletzt nicht, was ihnen eigentlich vorgeworfen wird und warum man sie verurteilt“, sagt Hänsel.

Auch in Italien, Spanien und England werde von „beinahe jedem ankommenden Flüchtlingsboot mindestens ein Mensch festgenommen und bezichtigt, anderen bei der Einreise geholfen zu haben“.

Medico nennt eine Zahl von rund 3.200 Beschuldigten in Italien seit 2013 und rund 500 Menschen in den Jahren 2022 und 2023 in Spanien. „Die Dunkelziffer dürfte weitaus höher sein“, so medico.

Zu einem der Aufsehen erregendsten Fälle gehört jener der „El Hiblu 3“. Dabei handelt es sich um ein seit 2019 in Malta laufendes Verfahren gegen drei zur Tatzeit 15, 16 und 19 Jahre junge Männer aus Guinea und der Elfenbeinküste. Die Staatsanwaltschaft hatte sie wegen „terroristischen Handlungen“, „illegalem Freiheitsentzug“, „rechtswidriger Abschiebung ins Ausland“ sowie „Gewalt“ angeklagt. Sie waren mit 100 anderen Menschen von dem Öltanker „El Hiblu“ aus Seenot gerettet worden. Auf Anweisung Maltas wollte der Kapitän sie zurück nach Libyen bringen – was illegal gewesen wäre. Die drei hatten zwischen dem Kapitän und aufgebrachten Mi­gran­t:in­nen vermittelt.

Neil Falzon vertritt die drei Männer seit fünf Jahren als Anwalt. Falzon ist Gründer und Direktor der aditus foundation, einer NGO in Malta, die Anfang September dafür den Menschenrechtspreis von Pro Asyl bekam.

„Die drei können nicht verstehen, dass sie als Terroristen verfolgt werden, nachdem sie nur vermittelt hatten“, sagt er. Die drei hätten „ihr Leben noch vor sich gehabt – und nun sehen sie einem Leben im Gefängnis entgegen.“

Einer der Angeklagten lebt mit Frau und Kind auf Malta. Das Ganze sei eine „Show, mit der die Regierung Maltas den anderen EU-Staaten beweisen will, dass sie ein guter Wärter der südlichen EU-Grenze ist“, sagt Falzon. Deshalb – „und natürlich um andere Menschen abzuschrecken“ halte die Justiz an den Tatvorwürfen fest.

„Wir haben die Klageschrift der Staatsanwaltschaft angefochten“, sagt Falzon – unter anderem, weil maltesische Gerichte auf hoher See nicht zuständig seien. Doch das Gericht wies den Widerspruch zurück, ein Berufungstermin ist anhängig. Falzon rechnet für November mit dem Beginn einer Hauptverhandlung.

Er selbst sei von der Regierung Maltas bisher nicht behindert worden. Aber wir „müssen uns auf sehr harte Zeiten einstellen, die nicht nur den Flüchtlingen schaden werden, sondern auch unseren Organisationen“, sagt er.

Dass Flüchtlinge, Mi­gran­t:in­nen und Hel­fe­r:in­nen vor Gericht landen, ist EU-weit ein Trend, auf den Menschenrechtsorganisationen seit Jahren hinweisen. Immer mehr EU-Staaten ahnden die Beihilfe zur illegalen Einreise auch dann als Schlepperei, wenn kein Geld fließt – Fachleute sprechen von Solidarity Crimes.

Der Strafbestand „Beihilfe zur unerlaubten Einreise“ werde teils strenger bestraft als Mord

Zuletzt hatten einige Gerichtsentscheide Hoffnung gemacht. In Italien und Griechenland waren Verfahren – etwa gegen Überlebende der Schiffskatastrophe von Pylos, Seenotretter aus Lesbos oder die Besatzung des Rettungsschiffs „Iuventa“ – überraschend eingestellt worden. „Das hat uns natürlich Hoffnung gegeben“, sagt Falzon. Doch bei den noch laufenden Verfahren sei weiter alles offen.

Ende August veröffentlichten 15 NGOs, darunter Amnesty International und Ärzte ohne Grenzen, einen Appell an die Bundesregierung, um dem ein Ende zu setzen. Seit 2023 arbeitet die EU an einer neuen Richtlinie, die die Strafbarkeit der Beihilfe zur illegalen Einreise neu regeln soll.

„Um Schutzsuchenden und Men­schen­rechts­ver­tei­di­ge­r*in­nen endlich Rechtssicherheit zu garantieren, muss jedoch dringend nachgebessert werden“, heißt es in dem Appell der NGOs über den vorliegenden Entwurf.

Sie fürchten, dass sonst auch in Zukunft Unterstützer als Schlepper vor Gericht landen können.