Wenn das eigene Kind getötet hat

Dass er es tat, ist eindeutig. Wie damit leben? In „Jenseits von Schuld“ porträtieren Katharina Köster und Katrin Nemec die Eltern des vielfachen Mörders Niels Högel

Manchmal geht es ihr zu schlecht zum Drehen: Ulla Högel und ihr Mann telefonieren täglich mit ihrem Sohn Foto: Tobias Tempel/Trimafilm

Von Wilfried Hippen

Auch sie sind Opfer. Natürlich ist ihr Leid nicht zu vergleichen mit dem all der Hinterbliebenen. Aber auch das Leben von Ulla und Dietrich Högel hat deren Sohn zerstört. Mindestens 87 Menschen umgebracht zu haben, dafür wurde Niels Högel 2019 verurteilt; begangen hatte er die Taten als Krankenpfleger in den Krankenhäusern Oldenburg und Delmenhorst. Seine Eltern sind nicht mitschuldig, sie waren, soweit dies zu ergründen ist, auch keine „schlechten“ Eltern, es führt nichts direkt von ihrer Erziehung zum mordenden Sohn.

Aber was ist schlimmer? Wenn andere solche Anschuldigungen erheben – oder Eltern sich selbst immer wieder fragen müssen, wie ihr geliebter Sohn sich zu solch einem Menschen entwickeln konnte? Und was ist verwerflicher? So einen Sohn zu verstoßen – oder ihn trotz seiner Taten weiter zu lieben, ihn, wo möglich, zu unterstützen? Das sind so Fragen, deretwegen die Filmemacherinnen Katharina Köster und Katrin Nemec sich daran gemacht haben, das Elternpaar Ulla und Dietrich Högel zu porträtieren.

2005 wurde Niels Högel bei einer versuchten Tat erwischt, er sitzt seitdem im Gefängnis, ist verurteilt zu lebenslanger Haft. Seine Eltern haben sich nicht von ihm abgewandt, sie telefonieren täglich mit ihm und besuchen ihn regelmäßig. Sie selbst wurden von den Filmemacherinnen besucht, in ihrer Wohnung in einer norddeutschen Stadt. Ein paar Wochen lang begleiteten Köster und Nemec das alltägliche Leben der beiden mit der Kamera. Sie waren auch bei einem Besuch in der Haftanstalt dabei. Und sie zeigen etwa, wie der Prozess gegen Högels ehemalige Vorgesetzte im Herbst 2022 seine Eltern neuerlich aufwühlte.

Niels Högel selbst bleibt, zumindest als Erwachsener, im Film unsichtbar. Seine Stimme ist manchmal durchs Telefon zu hören, leise und unverständlich. Die Familienfotos, die ihn als Kind zeigen, sind so banal und anrührend wie eigentlich alle Schnappschüsse aller Eltern.

An der Windschutzscheibe des Familienautos hängen immer noch Niels Högels Babyschuhe. Es sind solche Details, die noch die alltäglichste gezeigte Situation seltsam pointiert wirken lassen: Dietrich Högel bestellt per Telefon ein Sachbuch über die Morde seines Sohnes, später sehen wir ihn auf dem Sofa darin lesen. Für den Besuch im Gefängnis packen die Eltern ein Weihnachtsgeschenk ein, einen Pullover, und immer wieder hören sie im Radio, wie in den Nachrichten über ihren Sohn geredet wird.

„Jenseits von Schuld“ ist ein leiser Film. Köster und Nemec vermeiden alle Tricks des Erzählkinos, wie sie längst auch im Dokumentarfilm angewendet werden, um Spannung oder Empathie zu erzeugen. Sehr sachlich und diskret zeigen die Filmemacherinnen, wie das Ehepaar weiterleben kann – und es ist tatsächlich beeindruckend, wie liebevoll die beiden noch immer miteinander umgehen.

Im Dienst gemordet Die Verbrechen des Niels Högel

Niels Högel, geboren 1976 in Wilhelmshaven, war von 1999 bis Mitte 2005 als Krankenpfleger in Oldenburg und Delmenhorst tätig. Im Dienst beging er dort zahlreiche Morde an Pa­ti­en­t*in­nen – insgesamt leiteten die Behörden in 332 Fällen Ermittlungsverfahren wegen Mordverdachts ein, allein die aufgeklärten Fälle stellen die größte Mordserie in der bundesdeutschen Geschichte dar. In mehreren Prozessen wurde der geständige Högel (hier vor Gericht, 2019) wegen über 80 Morden verurteilt, dazu noch wegen zahlreicher Fälle gefährlicher Körperverletzung. Foto: Mohssen Assanimoghaddam/dpa

Über die Jahre haben sie eine Art Frieden gefunden, aber Dietrich hat Probleme mit dem Herzen und Ulla Tage, an denen es ihr schlecht geht und sie nicht gefilmt werden will. In einer Aufnahme sieht man den Aufbau für die Interviews in einem Studio. Dietrich muss für seine Frau einen Termin absagen, und diese Film-im-Film-Sequenz macht deutlich, dass beide dann doch mal Zweifel daran beschleichen, ob es die richtige Entscheidung war, das Filmteam in ihre Wohnung zu lassen.

Dem Vertrauen aber, das Ulla und Dietrich ihnen entgegengebracht haben, werden die Filmemacherinnen gerecht. Sicher: Manche Detailaufnahme kann kitschig wirken, Kuckucksuhr an Zimmerwand, zum Beispiel. Aber Köster und Nemec zeichnen mit einem durchaus liebevollen Blick das Porträt eines Ehepaars, das eine kaum vorstellbare Tragödie erlitten hat – und überstanden.

Die Monströsität von Niels Högels Taten steht hier keinen Moment lang infrage

Klar ist: Für einige Menschen, für Menschen, denen Niels Högel die Liebsten raubte, wird so etwas kaum zu ertragen sein. Die Filmemacherinnen haben „Jenseits von Schuld“ vor Veröffentlichung auch einigen Angehörigen von Ermordeten gezeigt. Dass die ihn abnickten, dürfte das wichtigste Gütesiegel sein.

Aber die Monströsität von Niels Högels Verbrechen steht auch keinen Moment lang infrage. Für die Eltern bleiben sie ein Mysterium, aber sie haben seine Taten nicht verdrängt. Wie sie damit umgehen, macht „Jenseits von Schuld“ zu einem humanistischen Drama jenseits aller voyeuristischen Attraktionen des „True Crime“-Genres.

„Jenseits von Schuld“. Regie Katharina Köster und Katrin Nemec, Deutschland 2024, 79 Minuten