Wirbel um Hamas-Dokumente

Kürzlich erschienen in „Bild“ und „Jewish Chronicle“ Artikel, die sich auf interne Informationen der islamistischen Terrororganisation berufen. Es geht auch um die Geiseln. Doch die Authentizität der Dokumente wirft Fragen auf

Israelische Soldaten am Eingang eines Tunnels, in dem kürzlich sechs israelische Geiseln erschossen aufgefunden wurden Foto: Leo Correa/ap

Von Nicholas Potter

Zum Schaudern!“, heißt die Überschrift, „Das plant der Hamas-Chef mit den Geiseln“. Der Artikel vom 6. September beruft sich auf ein „internes ­Schreiben“, das auf Jahia Sinwars Computer gefunden und von ihm persönlich abgesegnet worden sei – und der Bild exklusiv vorliege.

Im Bild-Artikel heißt es unter anderem, die islamistische Terrororganisation strebe kein schnelles Ende des Krieges an und wolle Israel für die erfolglosen Verhandlungen alleine verantwortlichen machen. „Wichtige Klauseln im Abkommen“ sollten „verbessert werden, selbst wenn die Verhandlungen über einen längeren Zeitraum fortgesetzt werden“, soll es im zitierten Dokument heißen. Und weiter: Die Familien der israelischen Geiseln sollen unter psychologischen Druck gesetzt werden.

Eine Woche später, am 12. September, steht in der linken israelischen Zeitung Haaretz ein Cartoon, der sich über den „Scoop“ lustig macht: Benjamin Netanjahu ruft die Bild an, ein Zeitungsbote liefert am nächsten Tag das Blatt und schon hat Bibi, so heißt der Premier mit Spitznamen, einen Beweis in der Presse für seine Behauptungen.

Kritisiert wurde der Bild-Artikel etwa in der Jedioth Aharonot, eine von Israels auflagenstärksten Zeitungen. Ronen Bergman, der auch zum diesjährigen Pulitzer-Preis-Gewinner-Team für die Nahostberichterstattung der New York Times gehört und in den israelischen Sicherheitsbehörden als bestens vernetzt gilt, schrieb am 8. September: Das Dokument stamme nicht vom Hamas-Chef Sinwar, sondern sei der „Vorschlag eines mittleren Funktionärs“ der islamistischen Terrororganisation.

Das Dokument sei zudem manipuliert worden, so Bergman weiter. Die entscheidende Stelle, dass Hamas kein Interesse an einem Deal habe, komme im Original nicht vor. Doch das behauptet der Bild-Artikel, geschrieben vom stellvertretenden Chefredakteur Paul Ronzheimer und Co-Politik-Chef Filipp Piatov, auch nicht. Sondern nur, dass die Hamas die Verhandlungen mit Israel hinauszögern wolle.

In einem weiteren Artikel Bergmans vom 15. September kommt dieser Vorwurf nicht mehr vor. Stattdessen heißt es: Das Dokument sei zwar vom militärischen Nachrichtendienst der Essedin-al-Kassam-Brigaden der Hamas verfasst worden, sei aber von weniger Bedeutung und nicht im Auftrag Sinwars entstanden.

Auf taz-Anfrage sagt die Bild, dass sie sich aus Quellenschutzgründen zu Ursprung und Überprüfung der Authentizität des Dokuments nicht äußern könne.

Die israelische Armee (IDF) habe aber die Echtheit des Dokuments nach der Veröffentlichung bestätigt, so die Zeitung.

Die Times of Israel berichtet, dass das originale Dokument vor fünf Monaten in Gaza gefunden worden sei und laut IDF-Quellen „keine neuen Informationen“ enthalte. Weiter sagt die Bild der taz: Die Zeitung „berichtet nirgendwo, dass aus dem Dokument hervorginge, dass die Hamas kein Interesse an einem Deal hat. Im Gegenteil: Bild berichtet, dass die Hamas sogar Maßnahmen plant, um ‚die Waffenruhe zu verlängern‘.“

Aus dem Hamas-Dokument gehe hervor, dass ein schnelles Ende des Kriegs für die Terrororganisation nicht wichtig sei – „dies wird mit einer entsprechenden Textpassage belegt“.

Gravierender sind die Vorwürfe, auch von Ronen Bergman in der Jedioth Aharonot erhoben, gegen die britische Zeitung Jewish Chronicle.

Ein Artikel des freien Reporters Elon Perry vom 5. September berief sich ebenfalls auf ein internes Hamas-Dokument, nach dem Sinwar mit israelischen Geiseln über den Philadelphi-Korridor zwischen Gaza und Ägypten in den Iran fliehen wolle.

Bild berichtet, dass die Hamas sogar Maßnahmen plant, um die Waffenruhe zu verlängern

Dieses Dokument hat die IDF als Fake entlarvt und kündigt Ermittlungen an. Israelische Medien spekulieren, dass die Fälschung in der europäischen Presse gezielt platziert worden sei, um Netanjahus Positionen zu unterstützen. Am Tag vor der Veröffentlichung hatte der israelische Premier nämlich genau darauf auf einer Pressekonferenz ohne Belege spekuliert. In den Verhandlungen beharrte er darauf, militärische Kontrolle über den Korridor zu behalten. Der Artikel in der Jewish Chronicle wurde etwa von seinem Sohn Jair geteilt.

In einem knappen Statement am 13. September erkläre die Jewish Chronicle nach einer internen Untersuchung die Zusammenarbeit mit Perry für beendet, sie entfernte sämtliche Artikel von ihm von ihrer Webseite. Teile der Biografie des ehemaligen IDF-Soldaten sollen zudem von ihm falsch dargestellt oder erfunden worden seien. „Wir entschuldigen uns bei unseren treuen Lesern und haben unsere internen Abläufe überprüft, damit sich so etwas nicht wiederholt“, schreibt die älteste jüdische Zeitung der Welt.

In der Zwischenzeit laufen die Ermittlungen der IDF zu den Enthüllungen weiter. Denn die Weitergabe solcher Dokumente an die Presse sei eine „schwere Straftat“, so ein Sprecher.

Doch auch wenn die beiden Fälle von manchen als Teil der gleichen Strategie Netanjahus gesehen werden, weisen sie auch wichtige Unterschiede auf: Bei der Bild geht es um ein echtes Dokument, das von der Zeitung als wichtiger dargestellt wird, als es tatsächlich ist; bei der Jewish Chronicle offenbar um eine gezielte Fälschung, die die öffentliche Meinung zugunsten Netanjahus beeinflussen soll.