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Ausgehen und rumstehenvon Maxi BroeckingUm die Angst vor dem Fremden zu überwinden

Es wird früh dunkel in diesen Tagen und bereits um halb acht fühlt es sich an, als würde man mitten in der Nacht durch die Stadt spazieren. So auch am Mittwoch, dem Beginn der Berlin Art Week, dem alljährlichen herbstlichen Kunstfest in der Stadt, mit Eröffnungen, Performances und Artist Talks. Wohin bei der Fülle der Möglichkeiten?

Zuerst zum Martin-Gropius-Bau, zur Eröffnung der Ausstellung „Das Glück ist nicht immer lustig“, einer Werkübersicht des 1961 geborenen thailändischen, in Bangkok, New York und Berlin lebenden Künstlers Rirkrit Tiravanija. Der Titel stammt aus dem Fassbinder-Film „Angst essen Seele auf“, auf den er sich seit seinen ersten Ausstellungen in den 1990er Jahren immer wieder bezieht. Doch erst mal überhaupt hineinkommen. Eine lange Schlange Wartender zieht sich die Straße entlang. Die Stimmung ist dennoch ausgelassen.

Innen angekommen stehen im Lichthof Tischtennisplatten aus seiner Serie „untitled 2013 (morgen ist die frage)“, ebenfalls einem Satz aus Fassbinders Film, eine Hommage an die „Ping Pong Society“ des slowakischen Künstlers Július Koller von 1970, der das Publikum aufforderte, mitzuspielen. Weitere Schlangen stehen für die Thaigerichte an, die – eine Grundform von Tiranijas künstlerischer Praxis – an die Be­su­che­r*in­nen ausgegeben werden, um über das Ritual des gemeinsamen Essens die Angst vor dem Fremden zu überwinden. In den oberen Ausstellungsräumen sind weitere Arbeiten seit seinen Anfängen 1987 zu sehen, darunter ein Selbstportrait in Form von drei Dosen mit verschiedenen Thai-Currypasten (untitled 1992 (Red, Yellow, Green Curry)) in einem Glaskasten, ein Verweis auf die in Museen in Vitrinen ausgestellten Buddha-Statuen, herausgelöst aus ihren kulturellen Zusammenhängen.

Am Freitagabend strömen die Be­su­che­r*in­nen durch den Regen in die Akademie der Künste am Pariser Platz, wo die Künstlerin und Architekturfotografin Candida Höfer mit dem Käthe-Kollwitz-Preis ausgezeichnet wurde. In zwei großen Räumen sind Arbeiten aus einer neueren Werkserie zu sehen, die ihre großformatigen Raumportraits zeigen, darunter die Komische Oper Berlin und die Neue Nationalgalerie. Gut gefüllt ist es auch in der Galerie Sprüth Magers in der Oranienburger Straße, die erstmals die 1992 in Indien entstandene mehrteilige Serie „Ahmedabad“ des 2020 verstorbenen Konzeptkünstlers John Baldessari zeigt, in der er Malerei, Fotografie und die von ortsansässigen Künst­le­r*in­nen bemalten Schmutzfänger von Rikschas zu skulpturalen Arbeiten zusammenfügte.

Doch neben der Kunst ist es auch das letzte Wochenende des diesjährigen Musikfests, das Kom­po­nis­t*in­nen des amerikanischen Kontinents gewidmet war. An diesem strahlenden Herbstsonntag ist zur Matinee der Kammermusiksaal beinahe leer, obwohl das großartige Ensemble Modern auftritt, die den in den 1920er Jahren in New York entstandenen Werken der Komponistin Ruth Crawford Seeger eine Konzertserie widmeten. Überraschend melodisch und spielerisch wirken Crawford Seegers Dekonstruktionen der musikalischen Form.

Neben der Kunst ist es auch das letzte Wochenende des Musikfests

Ein Genuss sind auch die virtuosen In­ter­pre­t*in­nen des Ensembles, die, über den Zuschauerraum verteilt, durch ein dezentriertes Raumgefühl Hörgewohnheiten hinterfragen. Nach einem kurzen Spaziergang über das Kulturforum, vorbei an der Baustelle für das gerade entstehende Museum der Moderne, wirkt die Ansicht der Neuen Nationalgalerie wie eine Übersetzung der Fotografien von Candida Höfer in die Dreidimensionalität, neu gesehen aus ihrem Blickwinkel. Doch nicht wie bei Höfer menschenleer. Im Gegenteil, immer noch – oder wieder? Schlangen vor dem Eingang. Für ein Fest der Kunst.

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