Philipp Rhensius Was macht mich?
: Viel von Nichts und Skills für Abitreffen wie Kartenzahlung

Foto: privat

Zugbistro, 17.34. Ich bestelle Kaffee. Die Verkäuferin hält das Kartenlesegerät hin und sagt, ich habe sicher eine Frau. Ich solle mich hier wie bei ihr verhalten. Wenn ich mache, was sie sage, sei „alles gut“. Lol, was die mir alles unterstellt: Dass ich hetero und verheiratet bin mit einer Person, die sich so verhält wie ein Kartenlesegerät und dass alles gut sei, solange ich mich ihr unterwerfe.

Ich finde es cute, wie direkt die Mitarbeiterin ist. Und interessant, wie selbstverständlich sie mich in ihre Welt ziehen will, die sie als objektive Wirklichkeit liest.

Das alles könnte mir scheißegal sein, aber ich habe diesen inneren Drang. Will stets wissen, was mich macht. Allumfassendes Spüren, bevor der Verstand sich das Erlebte zum Krimi zurecht denkt.

Ich mache, was das Gerät sagt, verberge mein Grübeln hinter einem Lächeln und sage danke. Ambiguitätstoleranz ist voll wichtig. Ein Skill, den ich morgen noch brauche. Ich fahre zum Abitreffen an meinen alten Wohnort. Je näher ich komme, desto größer die Angst vor der Begegnung mit den Ex-Mitschüler*innen. Ich antizipiere Gespräche über Karrieren, Kapital und Scham. Ich bin kinder-, beziehungs- und besitzlos, ohne festen Job.

Am Bahnhof holt mich meine Mutter ab. Ich freue mich, sie zu sehen, auch weil sie beim Thema Selbstzweifel eine Verbündete ist. Sie sagt, ich sähe unglücklich aus. Dabei lächle ich doch die ganze Zeit, oder nicht? Ich sollte meine Emotionen besser steuern.

Beim Abitreffen haben dann alle viel. Lea hat zwei Kinder, ein Haus, zwei Autos. Stefan hat drei Kinder, ein Auto. Nele hat kein Haus, aber zwei Autos, vier Kinder usw. Und ich? Beantworte fast alle Fragen mit Nein. Denke, was ein Fuck-up ich doch bin. Ich fühle mich ironisch gestreichelt von der unsichtbaren Hand des Marktes, Hüterin aller Kategorien, die mich, die Zug-Mitarbeiterin und Ex-Mitschüler*innen regieren.

Aus Trotz schlüpfe ich in mein 16-jähriges Selbst. Damals lebte ich von Bier, Punkrock und Illusionen, ahnte nur wenig vom Kartenlesegerät oder Kategorienzwang. Ich werde, dachte ich damals, sowieso von einer Bierflasche am Kopf, einem getunten Auto oder von Traurigkeit ohne Ventil umgebracht worden sein.

Nichts davon wurde wahr. Heute lebe ich ganz okay außerhalb der Kategorien, bin aber ein Loser, wenn ich mich über sie definieren soll.

Als ich mit allen anstoße, überlege ich, ob das alles eher ein Problem der Sprache ist, die von Substantiven dominiert wird und Verben verdrängt? Dinge haben, Häuser, Kinder, Jobs – statt zu „leben“, zu „lieben“, zu „arbeiten“. Haben statt sein. Da kann ich nicht mithalten.

Eine Sache besitze ich im Überfluss, zumindest im Kopf: Müll. Ich wünschte, ich könnte ihn leeren wie am PC und dieses raschelnde Geräusch erzeugen. Doch er kommt ständig zurück. Ich kann ihn nur loswerden, wenn ich ihn durch neuen Müll ersetze. So wie alles, das eigentlich für sich selbst stehen könnte, stets einen Begriff benötigt, um zu existieren – um dahinter zu verschwinden.

Ich fühle mich ironisch gestreichelt von der unsichtbaren Hand des Marktes

Ich glaube, bevor es Sprache gab, reagierten Menschen nur auf direkte ­Stimuli, alles war einzigartig. Heute ­filtern Menschen alles durch Kategorien.

Wie hätte die Verkäuferin sonst das Gerät erklärt? Ich will es gar nicht wissen.