Norbert Horst „Lost Places“: Enkeltrick mit Todesfolge
Leichenfunde in Essen, geheimnisvolle „Lost Places“. Norbert Horst war einst Kriminalbeamter. In seinem neuen Krimi gibt es etliche Rätsel.
Wenn man die Romane von Norbert Horst mit einem leichten Extragruseln liest, so liegt das wahrscheinlich auch daran, dass der Autor einst selbst Kriminalbeamter und an Mordermittlungen beteiligt war, mithin also einer ist, der aus erster Hand weiß, wozu Menschen fähig sind.
Für die meisten Leute wäre es wohl nur schwer vorstellbar, einen Arbeitsalltag zu haben wie Kommissar Deniz Müller vom Essener KK 11 in Horsts neuem Roman „Lost Places“: Ständig muss Müller zu „Leichensachen“ fahren; der Roman beginnt damit, dass ein obdachloser Mann tot in einem Zelt im Wald gefunden wird. Es handelt sich nicht um einen gewaltsamen Tod, aber weil die Möglichkeit immerhin besteht, muss trotzdem erst einmal die Polizei kommen.
Auch die nächste Leichensache wirkt unverdächtig: Eine alte Frau ist allein in ihrer Wohnung gestorben, neben sich noch den sorgsam vorbereiteten Apfelschnitz. Die Dame hatte, bestätigt ihr Arzt, schon lange Herzprobleme, und dennoch hat Deniz Müller ein seltsames Gefühl. Eine alte Freundin, Staatsanwältin Camilla Lopez, die über ein phänomenales Gedächtnis verfügt, bestätigt sein Unbehagen, denn ein Foto der Leiche erinnert sie an einen anderen Todesfall, mit dem sie vor Jahren zu tun hatte.
„Urbexer“ und „Lost Places“
Norbert Horst: „Lost Places – Wo die Toten schweigen“. Goldmann Verlag, München 2024 336 Seiten, 17 Euro
In einem parallelen Handlungsstrang recherchiert der Journalist Alex Rahn im Milieu der „Urbexer“, jener Menschen, die es sich zur Mission gemacht haben, lost places zu erkunden und ihre Erlebnisse an verlassenen Orten im Internet zu teilen. Ein einschlägiger Kontakt erweist sich als sehr hilfreich für Alex’ Zwecke; doch nach einer ersten gemeinsamen Exkursion meldet der junge Mann per SMS: „Leiche gefunden. Melde es der Polizei“, tut das aber nicht und bleibt verschwunden …
Horst erzählt zu ziemlich gleichen Anteilen aus Sicht der drei Hauptcharaktere Deniz, Camilla und Alex und blickt dazwischen auch durch die Augen verschiedener Nebenfiguren, von denen etliche zunächst Rätsel aufgeben, da ihre Funktion für die Story sich nicht immer gleich erschließt.
Wie in einer Art Erzählpuzzle fallen nach und nach alle Teile an ihren Platz, das ist gut und fesselnd gemacht. In der Behandlung der Hauptfiguren, das kann dann doch für leichte Irritation sorgen, hat der Autor sich etwas zu offensichtlich große Mühe gegeben, auf Diversität zu achten. Deniz Müller ist halb türkisch, halb deutsch, und Camilla Lopez hatte einen dunkelhäutigen kubanischen Großvater, was ihr Liebhaber zum Anlass nimmt, sie mit süß duftendem Milchkaffee zu vergleichen.
Sowohl Deniz’ als auch Camillas familiäre Zusammenhänge werden ausführlich erläutert, haben aber absolut keine Funktion für die Handlung. Bei allen anderen Figuren wird der persönliche Hintergrund nicht erwähnt. Was gut gemeint ist, kann durch Überbetonung unwichtiger Ausnahmemerkmale leicht zum Othering werden; aber vielleicht steht es der Rezensentin auch gar nicht zu, dazu eine Meinung zu haben.
Die blauen Latexhandschuhe
Zurück zum Anfang: Dass der Autor selbst einmal zu den Freunden und Helfern zählte, bürgt auch insofern für inhaltlichen Mehrwert, als er nebenbei Details in den Roman einfließen lässt, die den PolizistInnenalltag anschaulich und authentisch machen. So fällt dem Journalisten Alex zum Beispiel auf, dass sein alter Kumpel Deniz dünne blaue Latexhandschuhe in den Taschen seiner Jeans bei sich trägt.
Wenn Deniz zu einer Leichensache gerufen wird, schnappt er sich stets seinen „Einsatzrucksack“, bevor er sich auf den Weg macht (leider wird nicht erklärt, was drin ist). Und es ist im Gebäude des KK 11 absolut nicht egal, in welchen Mülleimer man zu welcher Zeit sein altes Butterbrotpapier schmeißt. So etwas mag zwar zur Kategorie „unnützes Wissen“ zählen, aber gerade deshalb macht es Spaß.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen