Landtagswahlen in Ostdeutschland: Transatlantische Inspiration

Deutschlands Progressive könnten sich von Harris abgucken, wie man den Populisten Paroli bietet. Es braucht ein mehrheitsfähiges Politikangebot.

Ein Zug fährt über eine Autobahnbrücke

Reform der Schuldenbremse für die Infrastruktur? Fänden sicher viele WählerInnen gut Foto: Jochen Tack/imago

Die Landtagswahlen in Thüringen und Sachsen waren ein Debakel für die progressiven Parteien und auch in Brandenburg droht die AfD zur stärksten Kraft zu werden. Anstatt sich jetzt von Union, AfD und BSW in den Themen von Asyl- und Migrationspolitik weiter vor sich hertreiben zu lassen, sollten die progressiven politischen Kräfte in Deutschland politische Akzente für ein mehrheitsfähiges Politikangebot setzen.

Bis zur Bundestagswahl 2025 bleibt Zeit, eine eigene Agenda und Strategie zu entwickeln, was derzeit in den Berliner Parteizentralen mit der Ausarbeitung der Wahlprogramme vorangetrieben wird. Das bedeutet auch, der Erzählung der AfD und des BSW vom Niedergang der Ampel alltägliche Gerechtigkeits- und Verteilungsfragen entgegenzusetzen. Der Unsicherheit vieler, vor allem junger Menschen mit glaubwürdigen und pragmatischen Lösungen zu begegnen, anstatt sich an den Rechtsextremen abzuarbeiten.

Eine repräsentative Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Ipsos, die im Frühjahr im Auftrag der Nichtregierungsorganisation „Das Progressive Zentrum“ in Deutschland und den USA vorgenommen wurde, bietet Aufschlüsse darüber, wie ein solches Politikangebot aussehen könnte. Nach den größten Sorgen gefragt, stehen in Deutschland Lebenshaltungskosten und die Wirtschaft deutlich vor den Themen Migration und Klimawandel.

Auch in den USA treiben Lebenshaltungskosten und wirtschaftliche Sorgen die Mehrheit der Befragten und insbesondere Trump- sowie Nicht­wäh­le­r:in­nen um. Das Thematisieren der alltäglichen, materiellen Sicherheit bietet also gerade Progressiven die Chance, Menschen außerhalb ihrer Basis zu erreichen. Das Wahlkampagnenteam der demokratischen US-Präsidentschaftskandidatin Kamala Harris und ihres Mitbewerbers Tim Walz scheint genau darauf zu setzen.

In ihrem ersten TV-Interview sprach Harris von einer „Chancengesellschaft“, der sie sich ab dem ersten Tag ihrer Präsidentschaft widmen wolle. Sie wendet sich damit vor allem an die Mittelschicht, der sie ein Mehr an „wirtschaftlicher Sicherheit, Stabilität und Würde“ bringen will. Zudem sollen die Kosten für Güter des täglichen Bedarfs gesenkt werden, unter anderem durch ein bundesweites Verbot von Preisabzocke durch Konzerne bei Lebensmitteln.

Materielle Sicherheit und Gerechtigkeit

Auch eine Erhöhung der Unternehmenssteuer bei gleichzeitigen Steuererleichterungen für Arbeiter:innen- und Mittelklassefamilien steht auf ihrer Agenda. Harris gelingt es, nicht nur die alltäglichen Probleme ernstzunehmen und konkrete Lösungen vorzuschlagen, sondern sie verbindet materielle Sicherheit mit dem Gefühl von Gerechtigkeit und einer positiven Zukunftserzählung.

Auch wenn ihre Vorhaben in dieser Phase des Wahlkampfs teils vage bleiben und aktuell kaum jemand sagen kann, ob und wie die Ideen durch den Kongress kommen könnten, liegt Harris in den Umfragen der vergangenen Wochen schon knapp vor Trump. Die Kombination aus affektiver und rationaler Politik, also einerseits das Bedienen von Gefühlen und andererseits das Vorbringen neuer, greifbarer Gesetzesvorhaben, wie auch die Nominierung des Vizepräsidentschaftskandidaten Tim Walz als Identifikationsfigur der Mittelklasse scheint für das Team Harris gut zu funktionieren.

Für Deutschland heißt das: Es lohnt sich, mutig eigene Akzente zu setzen und ein klares Gegenangebot zum konservativ-rechten Diskurs zu formulieren. Progressive sollten mit Nachdruck darüber nachdenken, wie so etwas wie eine „Chancengesellschaft“ aussehen könnte, wie materielle Sicherheit und Gerechtigkeit in einer überzeugenden Zukunftserzählung aufgehen könnten. Eine solche braucht aber, wie auch bei den US-Demokrat:innen, handfeste Finanzierungs- und Umsetzungspläne.

Ein Ansatzpunkt kann die öffentliche Infrastruktur und Daseinsvorsorge sein. Neu ist diese Forderung nicht und Geld allein löst keinen Personalmangel, aber eine „Zeitenwende“ für die öffentliche Infrastruktur und Daseinsvorsorge wäre eine spürbare Prioritätenverschiebung. Massive Investitionen in diese Bereiche sind auch eine Antwort auf die Strukturkrise der Wirtschaft und sie würden die Menschen spürbar in ihrem Alltag entlasten.

Abstriche bei der Schuldenbremse

Gerade dort, wo sie infolge jahrelanger strenger Sparpolitik vernachlässigt wurden, schwindet das Vertrauen in die Demokratie. Da profitieren rechtsextreme Kräfte und Niedergangserzählungen florieren. Es braucht eine Reform der Schuldenbremse. Dem würden laut Umfrage 77 der Menschen in Deutschland zustimmen, wenn dadurch Investitionen in die Infrastruktur, das Bildungswesen und die Gesundheitsversorgung fließen. Zudem sollte auch auf der Einnahmenseite vor Reformen nicht zurückgeschreckt werden.

Wie für Harris in den USA besteht in Deutschland das Potenzial, durch Steuererhöhungen für Unternehmen und Spit­zen­ver­die­ne­r:in­nen dem Gerechtigkeitsversprechen nicht zuletzt für die Mitte Glaubwürdigkeit zu verleihen. In Deutschland könnte das konkret durch die Wiedereinführung der Vermögenssteuer, die Erhöhung des Spitzensteuersatzes und die Einführung einer Übergewinnsteuer bei einer Ausweitung des ermäßigten Steuersatzes auf weitere Grundnahrungsmittel geschehen.

Bei alldem sollten Progressive in Sachen Klimaschutz jetzt nicht klein beigeben. 52 Prozent der Befragten in Deutschland sind der Ansicht, dass ehrgeizigere Maßnahmen zum Klimaschutz der Regierung mehr Vorteile als Risiken bringen könnten, etwa im Hinblick auf den Arbeitsmarkt oder die Exportwirtschaft. Progressive müssen den grünen Umbau bestehender Industrien weiter vorantreiben und Planungssicherheit schaffen.

Es gilt, diese knappen Mehrheiten auszubauen und all die diejenigen, die sich Veränderung wünschen und auf sie angewiesen sind, nicht im Stich zu lassen.

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arbeitet als Projektmanagerin im Bereich Green New Deal an den internationalen Projekten des Progressiven Zentrums. Ihre Interessengebiete umfassen die Innen- und Außenpolitik der USA, die transatlantische Partnerschaft und den Blick auf die internationale Ordnung in der Transformation, insbesondere aus feministischer Perspektive.

ist als Projektmanager zuständig für internationale Projekte zur sozial-ökologischen Transformation in den Schwerpunkten Green New Deal und Resiliente Demokratie des Progressiven Zentrums.

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