Vergewaltigungsprozess in Frankreich: Der Mut der Madame Pélicot

Gisèle Pélicot wurde vom Ehemann sediert, missbraucht und Männern über Jahre zur Vergewaltigung ausgeliefert. Ihr Fall könnte nun etwas verändern.

Gisèle Pélicot spricht mit Sonnenbrille vor mehreren Mikrofonen. Sie ist eine lte Frau mit kinnlangen Haaren. Hinter ihr einige Menschen.

Gisèle Pélicot will auch Vorbild für andere Betroffene sein Foto: Lewis Joly/ap

Das bewusstlose Opfer liegt entblößt über einen Tisch gebeugt. Neben ihr steht eine Flasche Rohypnol, eine Gruppe Männer steht hinter ihr Schlange, um sie zu vergewaltigen. Und ihr Mann, auch nackt und filmend, steht daneben und ruft: „Der Nächste!“ Derart geschmacklos und menschenverachtend karikiert das französische Satiremagazin Charlie Hebdo den Fall, der in den dortigen Medien die „Vergewaltigungen von Mazan“ genannt wird. Der Gerichtsprozess, der Anfang September begann, hält ganz Frankreich in Atem.

Eine Frau wurde unter Drogen gesetzt und dutzendfach vergewaltigt – einer der grausamsten Fälle der französischen Geschichte. „Ich war nie Charlie“, kommentiert eine Nutzerin in Anspielung auf die Solidaritätsverkündungen mit Charlie Hebdo nach dem islamistischen Anschlag im Januar 2015. Dieser war „genauso schrecklich und unentschuldbar wie die Scheiße, die sie zeichnen“, antwortet eine andere. Ein Mann hat die Karikatur verbrochen. Natürlich.

Opfer der „Vergewaltigungen von Mazan“ ist Gisèle Pélicot, die explizit darum bittet, in den Medien mit ihrem vollständigen Namen erwähnt zu werden, da er Mut verkörpere, wie ihre Anwält_innen am Donnerstagmorgen vor dem Gericht Vaucluse in Südfrankreich wiedergeben. Ihr Mann Dominique Pélicot hatte sie auf der anonymen Chatseite „coco.gg“ auf seinem Kanal „À son insu“, also „Ohne ihr Wissen“ fremden Männern zum Sex angeboten.

Er hat das Beruhigungsmittel Temesta, ein Benzodiazepin, zerdrückt, in ihr Abendessen gemischt, die Unbekannten anschließend in das eheliche Schlafzimmer eingeladen und die bewusstlose Frau der Vergewaltigung ausgeliefert. Die mutmaßlichen Täter erhielten dabei strenge Anweisungen, um das Opfer nicht zu wecken, etwa kein Parfum zu tragen und die Hände vorher aufzuwärmen. Dominique Pélicot gesteht die Taten. Auch, dass er seine Frau vergewaltigte. Nur zufällig kam das Ganze ans Licht.

50 Jahre verheiratet

Gisèle und Dominique Pélicot waren etwa 50 Jahre verheiratet, haben drei Kinder und sind 2013 mit Renteneintritt nach Mazan, einem Ort in der Provence, gezogen. In der benachbarten Stadt Carpentras wurde der Täter im September 2020 in der Supermarktkette Leclerc dabei erwischt, wie er unter die Röcke von drei Frauen filmte.

Als die Ermittler daraufhin seinen Computer durchsuchten, fanden sie unzählige Vergewaltigungsvideos von der heute 71-jährigen Rentnerin. Auch auf Fotos ihrer nackten und bewusstlosen Tochter stießen sie. Die Videos waren akribisch beschriftet, wie Le Monde berichtet: „Missbrauch/Nacht vom 26.05.2020 mit Marc, fünftes Mal“ oder „Missbrauch/Nacht vom 09.06.2020 mit Charly, sechstes Mal“.

Um die 200 Videos fanden die Ermittler, begangen von etwa 83 mutmaßlichen Tätern im Zeitraum von Juli 2011 bis Oktober 2020. 51 davon kann die Polizei identifizieren, darunter einen Krankenpfleger, einen Feuerwehrmann, einen Journalisten, einen Gärtner, Familienväter. Und den Ehemann. Heute stehen sie vor Gericht.

Einige halten daran fest, dass sie dachten, es handle sich eben um ein sexuell freizügiges Paar. (In Frankreich gilt nicht mal „Nein heißt Nein“, nur, wenn Gewalt angewendet wird, gilt eine Vergewaltigung als solche.) In den Videos erkenne man aber, dass sie unter Drogen stehe, so Gisèle Pélicot: „Eine Tote auf einem Bett. Der Körper ist aber nicht kalt. Er ist warm, doch ich bin wie tot.“ 14 der Männer haben sich bereits schuldig bekannt.

Internationale Schockwelle

Eine Cold-Case-Abteilung in Nanterre klagt den Haupttäter Dominique Pélicot daneben noch in zwei anderen Fällen an: Mord mit Vergewaltigung, den er 1991 in Paris begangen haben soll (er bestreitet dies), und versuchte Vergewaltigung, 1999 in Seine-et-Marne, die er nach DNA-Übereinstimmung zugab.Der Fall wird als historisch bezeichnet und löst nicht nur in Frankreich eine Schockreaktion aus. International wird über die „Vergewaltigungen von Mazan“ berichtet, immer schwankend zwischen essenzieller und aufklärender Berichterstattung über den grausamen Fall und Sensationsgier, der Lust am Morbiden.

Gisèle Pélicot hatte dafür plädiert, dass der Prozess, der bis Dezember andauern wird, nicht unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfindet, um auf das Phänomen der soumission chimique, das Gefügigmachen mit Psychopharmaka, aufmerksam zu machen: „Wenn andere Frauen ohne jegliche Erinnerung aufwachen, werden sie sich vielleicht an die Aussage von Madame Pélicot erinnern.“

Ihr Anwalt Stéphane Babonneau sagte darüber, dass „die Beschämung die Seite wechseln müsse“. Gerade deswegen ist ein sensibler Umgang der Presse nötig – anders als bei Charlie Hebdo. Dazu gehört auch, dem Prozess Raum zu geben und ihn nicht als True Crime zu stilisieren, wo jedes grausame Detail ausgeschlachtet wird.

Plattform musste schließen

Feminist_innen weltweit fordern jetzt Aufklärung und eine lückenlose Aufarbeitung im Prozess. Wie konnten Nachbar_innen oder Bekannte nichts davon mitbekommen? Wie erklärte sich das Opfer ihre oft stundenlangen Gedächtnislücken? Eine Erklärung dafür könnte potenziellen Opfern dabei helfen, Symptome früher zu erkennen. Warum wurden die gynäkologischen Beschwerden der Frau nicht adäquat identifiziert? Auch dass die Plattform coco.gg schließt, die diese Treffen überhaupt ermöglichte, forderte man. Erfolgreich.

Die 2003 gegründete Seite, die auf der britischen Insel Guernsey registriert war, wurde im Juni 2024, schon bevor der Prozess begann, blockiert, nachdem sie ihre Domain zuvor noch von coco.fr zu coco.gg geändert hatte. Frei von jeglicher Moderation konnten Leute dort kommunizieren und sich verabreden. So machte die Seite Drogen- und Waffenhandel, Pädokriminalität, Prostitution und homophobe Gewalttaten möglich.

Auf Kanälen wie „Sie gegen ihren Willen nehmen“ wurden Vergewaltigungen gezeigt, geheime Aufnahmen teilte man bei „Exhib-Frauen“ oder „Candaulismus“, Revenge-Porn im Raum „Ex-Freundin“. Ob dort irgendwelche Bilder oder Videos mit Einwilligung der Frauen hochgeladen wurden, ist stark zu bezweifeln.

Zuletzt geriet die Seite April 2024 in die Schlagzeilen, nachdem sich der 22-jährige Phi­lippe Coopmann aus der Nähe von Dunkerque im Norden Frankreichs auf coco.gg mit einer Minderjährigen verabredet war. Ein 14- und 15-Jähriger hatten Coopmann getäuscht und ihn „zur Strafe“, wie sie selbst sagten, so zusammengeschlagen, dass er an den Folgen starb. Laut TFI-Info ergab eine Auswertung von Polizeitaten, dass zwischen dem 1. Januar 2021 und dem 7. Mai 2024 etwa 23.000 Gerichtsverfahren im Zusammenhang mit der Plattform eingeleitet wurden. Jetzt ist coco.gg nicht mehr aufrufbar. Endlich, sagen viele, das zeige auch der Fall aus Mazan.

Was Gisèle Pélicot geschah, ist einerseits ein Ausnahmefall und zeugt anderseits von der strukturellen Gefahr, der Frauen ausgesetzt sind. Wie kann es sein, dass diese höchstkriminelle Parallelwelt so lange frei und unkontrolliert zugänglich war, obwohl Behörden auf die Seite aufmerksam gemacht wurden und Zugriff auf die verstörenden Inhalte hatten? Wer übernimmt dafür die Verantwortung? Auch diese Frage sollte im Prozess beantwortet werden. Denn derart gravierende Fälle dürfen nicht nur durch Zufall aufgedeckt werden.

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