Aufwachen mit Nachrichten: Die Teufelsaugen des Radioweckers

Unser Autor ist gestresst vom aggressiven Weckton des Smartphones und probiert es mit dem Radiowecker. Leider.

Die roten Ziffern der Anzeige eines Radioweckers

Guten Morgen! Foto: imago

Didididi, DIDIDIDI! Es ist kurz nach 7 Uhr, als ich von meinem Smartphone aufgescheucht werde. Nach der ersten Panik, die der aggressive, unmenschliche Weckton auslöst, fange ich mich wieder. Ich kenne das schließlich schon. Mein verkrampfter Körper löst sich. Ich freue mich, dass ich noch lebe, mal wieder, und bleibe noch etwas liegen. Die Sonne strahlt mir ins Gesicht, im Bett lasse ich mich gerne von ihr blenden. Nur hier habe ich meine Ruhe vor den Zumutungen des Lebens, nur hier kann ich sein, wer ich bin. Aber wie gut kann ein Tag beginnen, wenn er mit dem Gefühl beginnt, dass das Ende gekommen ist? So kann es doch nicht weitergehen!, beschließe ich und hole den alten Radio­wecker aus dem Keller.

Ich stecke das Kabel in die Steckdose und die roten Ziffern des Radioweckers leuchten auf. Kurz sehen sie aus wie Teufelsaugen, aber ich glaube, das bilde ich mir nur ein. Stimmen, die aus dem Gerät kommen, kämpfen gegen ein Rauschen an.

Weil ich nur noch mit Touchscreens umgehen kann, fordert mich das alte Teil. Ich drücke erst einen Knopf, dann einen anderen, dann drücke ich verzweifelt alle nacheinander. Oder muss man alle gleichzeitig drücken? Doch mit großer Geduld und angetrieben von der Aussicht auf einen besseren Start in den Tag und damit ein besseres Leben befreie ich die Stimmen vom Rauschen. Dann stelle ich die Uhrzeit und den Wecker ein.

Voller Vorfreude lege ich mich ins Bett und blicke auf mein Werk. Wie anmutig und stolz der schöne alte Radiowecker doch auf meinem Nachttisch steht! Schlicht, funktional und verlässlich, wie er erscheint, gibt er mir ein längst verloren geglaubtes Gefühl von Sicherheit zurück. Ich beobachte, wie sich die Ziffern der guten, alten Segmentanzeige mit den Minuten verändern. Warum sollte dieses Leben nicht bewältigbar sein?, denke ich, als mir die Augen zufallen.

7 Uhr, die Nachrichten, zunächst die Übersicht,

sagt plötzlich eine Stimme,

bei einem mutmaßlich islamistischen Anschlag tötet ein Syrer drei Menschen und verletzt acht,

der Anführer der Opposition fordert, keine Geflüchteten aus Afghanistan und Syrien mehr aufzunehmen,

die Bundesregierung beschließt Asylverschärfungen,

die Opposition kritisiert diese Maßnahmen als unzureichend,

Deutschland schiebt wieder nach Afghanistan ab, zum ersten Mal seitdem die Taliban an der Macht sind,

zum ersten Mal in der Geschichte der Bundesrepublik gewinnt eine rechtsextreme Partei eine Wahl, sie wird stärkste Kraft in Thüringen,

in München schießt ein weiterer mutmaßlich islamistischer Attentäter in der Nähe des israelischen Generalkonsulats und des NS-Dokumentationszentrums auf Polizisten und wird von diesen erschossen,

auch in Brandenburg wählen die Bürger in wenigen Tagen einen neuen Landtag, auch hier ist die rechtsextreme Partei in aktuellen Umfragen stärkste Kraft …

Okay, jetzt ist es echt so weit!, denke ich. Dieses Mal geht die Panik nicht von allein weg. Ich brauche eine kalte Dusche und ein paar Minuten länger, bis ich mich zurück ins Schlafzimmer traue. Ich ziehe den Stecker, die Teufels­augen erlöschen. Dann höre ich einen Ton, der nicht schön, aber vertraut ist. Große Erleichterung. Es ist der zweite Wecker, der, den ich auf dem ­Smartphone gestellt habe. Didididi, DIDIDIDI!

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Kolumnist (Postprolet) und Redakteur im Ressort taz2: Gesellschaft & Medien. Bei der taz seit 2016. Schreibt über Soziales, Randständiges und Abgründiges.

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