Zwischen Wut und Hoffnung

Soll Israels Militär im Gazakrieg noch Rücksicht nehmen auf die Geiseln? Diese Frage spaltet die israelische Gesellschaft – insbesondere seit die Hamas sechs Gefangene ermordet hat

Demonstrierende zeigen am Montag in Jerusalem Bilder von getöteten Geiseln Foto: Felix Wellisch

Aus Jerusalem Felix Wellisch

Die Protestierenden tragen eine Sarg­attrappe über die Gaza-Straße in Jerusalem. Und ein Porträt des 23-jährigen Hersh Goldberg-Polin. Darunter steht: „Hersh wird nicht zurückkommen“.

Die Ermordung von sechs israelischen Geiseln durch die Hamas am vergangenen Wochenende lässt seitdem jeden Abend Zehntausende in ganz Israel auf die Straße gehen.

Wut und Hoffnung liegen am Montagabend in der Luft: „Exekutiert von der Hamas, aufgegeben von Netanjahu“ steht auf einem Schild. „Abkommen. Jetzt“, hat sich eine Demonstrantin auf die Arme geschrieben. „Das sind die größten Proteste seit Oktober, die Regierung muss auf uns reagieren“, sagt sie.

Doch die Gewissheit unter Israelis, dass die Rückkehr der Geiseln oberste Priorität haben muss, bröckelt nach fast elf Monaten Krieg.

Ein Stück die Straße hinauf streiten sich Demonstrierende mit einer Gruppe von vier jungen Männern mit weißen Hemden und schwarzen Kippas. Einer von ihnen ist der 21-jährige Mordechai Litwin. „Wir müssen die Hamas besiegen und die Geiseln mit Gewalt zurückholen, wenn überhaupt noch welche von ihnen am Leben sind“, sagt er. Seine Gefährten nicken.

„Es hätte auch deine Familie treffen können“, schreit ihn eine Demonstrantin an. „Wenn sie jetzt in Gaza säßen, würdest du nicht so reden.“

Dieser Zwiespalt spiegelt sich auch an den Häuserwänden in Jerusalem. Immer häufiger tauchen neben den überall aufgehängten Porträts der Entführten mit der Forderung „Bringt sie jetzt nach Hause“ neue Plakate auf. „Bis zum Sieg“ steht darauf unter Fotos von im Gazastreifen gefallenen Soldaten. Zunehmend wird in Israel die Frage diskutiert, ob im Gegenzug für ein Abkommen überhaupt Zugeständnisse an die Hamas gemacht werden sollten.

Die Hamas ermordete die sechs Geiseln zwischen 23 und 40 Jahren offenbar direkt nach einer Entscheidung des Sicherheitskabinetts, die israelische Armee nicht aus dem Philadelphi-Korridor an der Grenze zu Ägypten zurückzuziehen. Einer Umfrage des israelischen Senders KAN von Montag zufolge unterstützt dennoch eine knappe Mehrheit der jüdischen Bevölkerung Netanjahu in seiner Weigerung, die Kontrolle über die Grenze aufzugeben. Selbst wenn daran ein Abkommen für eine Freilassung der Geiseln scheitern sollte. Nur 43 Prozent der Befragten priorisieren eine Rückkehr der Geiseln.

Süd-Jerusalem am Mittwochabend. Vor dem Haus der Familie Goldberg-Polin ist ein Pavillon aufgebaut. Gemäß der jüdischen Schiwa-Tradition empfangen die Eltern des ermordeten 23-Jährigen sieben Tage lang Trauergäste.

Über den Hügeln Jerusalems geht schon die Sonne unter, vor dem Zelt warten noch immer mehr als hundert Menschen darauf, mit Hershs Eltern Jon und Rachel zu sprechen, die seit Oktober unermüdlich für einen Geiseldeal gekämpft haben. Vor zwei Wochen hielten sie eine Rede auf dem Parteitag der US-Demokraten. Hersh war damals noch am Leben.

Bei der Beerdigung ihres Sohnes hatte Rachel vor Tausenden von Trauernden gesagt, sie sei sich „absolut sicher gewesen“, dass er lebend zurückkommen würde. „Ich bete, dass dein Tod eine Veränderung bringt in dieser furchtbaren Situation.“

Nun begleiten Freunde der Familie die Eltern bei ihren Gesprächen mit den Trauergästen. Fans von Hershs Fußballverein Hapoel Jerusalem in gelben Warnwesten versorgen die Wartenden mit Essen und Wasser.

„Ich möchte in einem Land leben, das alles dafür tut, mich nach Hause zu holen, wenn mir das passieren würde“, sagt Judi, braune Locken, eine Freundin der Familie. 330 Tage hätten Hersh und die anderen in Geiselhaft überlebt und durchgehalten, nun sei es „für nichts gewesen“, sagt die 33-Jährige. Ihr Mann Avinoam, Vollbart und kurz geschorene Haare, pflichtet ihr bei: „Ich kann das Gerede vom totalen Sieg nicht mehr hören.“ Er sei selbst als Reservist in Gaza gewesen, er habe Freunde und Kameraden verloren. „Wenn wir die Geiseln nicht zurückholen können, dann sind sie umsonst gestorben“, sagt der 30-Jährige. Ihren Familiennamen wollen die beiden für sich behalten.

Ein paar Gehminuten entfernt spazieren Uriah und Jasmin mit ihrem einjährigen Sohn durch den Mesila-Park. Sie sind anderer Meinung. „Wir dürfen keine Zugeständnisse machen, die der Hamas militärisch nutzen“, sagt der 32-Jährige. Er trägt ein Poloshirt, in seinem Gürtel steckt eine Pistole. „Ich vertraue der Regierung nicht und klar möchte ich, dass die Geiseln freikommen, aber nicht auf Kosten der Sicherheit von allen anderen“, sagt Uriah.

Dazu zähle auch, Palästinenser freizulassen, die an Anschlägen beteiligt waren. „Jahia Sinwar haben wir 2011 mit mehr als 1.000 anderen für den entführten Soldaten Gilad Shalit freigelassen, ohne ihn hätte es den 7. Oktober vielleicht nicht gegeben“, sagt Jasmin. Die Proteste würden der Hamas in die Karten spielen. „Wenn wir gespalten sind, sind wir angreifbar“, sagt sie. Ihren Nachnamen möchten auch diese beiden nicht nennen.

Die Angst vor Spaltung stellt auch Netanjahu in den Mittelpunkt. Mehrfach unterstellte er den Demonstrierenden, im Interesse der Hamas zu handeln.

Am Mittwochabend trat der Regierungschef vor die internationale Presse, in der Hand einen Zeigestock, hinter sich eine Karte der Region, auf der das palästinensische Westjordanland Teil von Israel zu sein schien. Im Gazastreifen zeigte die Karte Symbole vermummter Hamas-Kämpfer mit Raketen. Vier Pfeile sollten deutlich machen, woher deren Nachschub kommt: über die Grenze zu Ägypten. Den Philadelphi-Korridor müsse man kontrollieren, um mehr Druck in den Verhandlungen für eine Geiselfreilassung auszuüben.

Auch aus Netanjahus Regierung gibt es Kritik am Chef

Verteidigungsminister Joav Gallant und Oppositionsführer Benny Gantz werfen Netanjahu vor, mit der Philadelphi-Forderung ein Abkommen zu blockieren. Die Spitzen der Armee und der Geheimdienste haben wiederholt betont, dass ein Rückzug aus dem Korridor mit der Sicherheit Israels vereinbar sei. Dennoch zeigen Wahlumfragen den Premier und seine Regierungspartei Likud nach einem massiven Einbruch im vergangenen Jahr seit August wieder Kopf an Kopf oder sogar vor ihren politischen Gegnern.

Dabei hat die Härte im Gazakrieg bisher vor allem tote Geiseln nach Israel zurückgebracht, insgesamt 37. Acht wurden lebend gerettet, 105 nach Verhandlungen freigelassen.

Währenddessen versucht die Hamas tatsächlich, die Spaltung Israels voranzutreiben. Seit vergangenem Wochenende veröffentlichte sie eine Reihe von Videos, in denen die ermordeten Geiseln offenbar kurz vor ihrem Tod zu sehen sind. Die Hamas warnt: Es seien „neue Regeln“ für die Bewacher der übrigen Gefangenen erlassen worden, falls sich israelische Soldaten deren Verstecken nähern würden. Netanjahus Beharren auf militärischem Druck bedeute, „dass die Geiseln in Leichentüchern zu ihren Familien zurückgebracht werden“.

Zugleich stellt die Gruppe nach einem Bericht der Webseite Axios nun selbst neue Forderungen: Israel solle für ein Abkommen mehr palästinensische Gefangene freilassen. Ein Ausweg rückt damit in noch weitere Ferne.