Sie macht immer ihr eigenes Ding

In einer eigenen Wohnung zu leben, nach der Förderschule zu studieren, eine Festanstellung zu finden – um all das musste Viktoria Eckert kämpfen. Von der Gesellschaft wird sie oft behindert

Sie ist Community-Managerin bei einem genossenschaftlichen Supermarkt: Viktoria Eckert

Von Eva-Lena Lörzer
(Text) und Steve Braun (Fotos)

Anders als bei ihrer Zwillingsschwester ging bei ihrer Geburt einiges schief: Wegen des Sauerstoffmangels wird sie später auf den Rollstuhl angewiesen sein.

Draußen: Die Straße im Berliner Wedding wird von Gründerzeithäusern gesäumt. Viktoria Eckerts Wohnung liegt hinter einer Durchfahrt in einer kreisförmigen Anlage. Sie zu finden ist nicht leicht. Zwei Jungs, die auf einer kleinen Rasenfläche Fußball spielen, geben bereitwillig Auskunft. Sie kennen die Siedlung wie ihre Westentasche.

Drinnen: Eine Assistentin öffnet die Tür von Viktoria Eckerts Erdgeschosswohnung und lotst von einer lichtdurchfluteten Diele ins minimalistisch eingerichtete Wohnzimmer. Neben dem Tisch gibt es ein Bücherregal mit Werken von J. K. Rowling bis zu der Reihe „Unlearn Patriarchy“. Vor einer taubenblau gestrichenen Wand steht ein Sofa, gegenüber ein Plasmafernseher, drum herum hängen Landschaftsaufnahmen von einer Reise in die Niederlande. Daneben Porträts berühmter Frauen wie Toni Morrison und Vivienne Westwood. Eckerts Assistentin zieht sich aufs Sofa zurück und daddelt auf ihrem Handy, jederzeit abrufbereit.

Hundeliebe: Viktoria Eckert beginnt ohne Umschweife, aus ihrem Leben zu erzählen. Vom Alltag im Studentenwohnheim, ihrer schulischen Laufbahn. Die 30-Jährige ist es gewohnt, immer jemanden um sich zu haben und dennoch ihr eigenes Ding zu machen. Am liebsten hätte sie einen Hund: „Aber das geht mit so viel Verantwortung einher.“ Deswegen, erzählt sie, schreibe sie bei der Suche nach As­sis­ten­t*in­nen in die Anzeigen: „Hunde gemocht.“ An der Wand hängt ein Kalender mit Hundefotos. Darauf abgebildet: jetzige oder ehemalige Hunde ihrer Assistent*innen. „Ein Geschenk“, sagt sie.

Arbeitgeberin: Viktoria Eckert hat nicht nur eine, sondern gleich sieben persönliche Assistentinnen. Alle sind bei ihr angestellt. „Das heißt, ich zahle ihre Sozialabgaben und mache Stundenpläne nach ihrer Verfügbarkeit.“ Die Planung erfordert Geschick. „Fällt jemand aus oder passt es mit jemandem nicht, muss sofort Ersatz her.“ Ohne geht es nicht. Eckert selbst ist auch festangestellt. Seit einem Jahr arbeitet die Kommunikations- und Politikwissenschaftlerin in Vollzeit als Community-Managerin bei der Super Coop, einem genossenschaftlichen Supermarkt bei ihr um die Ecke. Sie ist eine von fünf Festangestellten und kann sich spürbar mit dem Konzept identifizieren.

Super Coop: 75 Prozent der Arbeit, schwärmt Eckert, werde durch Genossinnen und Genossen abgedeckt – dadurch ließen sich die Preise 20 Prozent günstiger halten als die herkömmlicher Biosupermärkte: Wer neben dem jährlichen Beitrag drei Stunden pro Monat in der Coop arbeitet, kann einkaufen und über das Sortiment mitbestimmen. „Für Menschen, die ihre Jahresgebühr nicht zahlen können, gibt es Ratenzahlungen oder Soli-Anteile, für Menschen, die nicht so viele Schichten machen können, Ausnahmen.“ Das Credo von Super Coop: Faire Produktions- und Handelsbedingungen. Alles sei transparent, „bis hin zu den Aufschlägen auf den Einkaufspreis“. Für Viktoria Eckert steht das Gemeinschaftliche im Vordergrund. „Alle Mit­ei­gen­tü­me­r*in­nen sind zugleich Mit­ar­bei­te­r*in­nen und Kund*innen.“ Wenn sie ausnahmsweise woanders einkaufe, falle ihr der Unterschied auf: „In der Super Coop ist es freundlicher. Da unterhält man sich. Man hilft sich gegenseitig, wenn jemand nicht weiterweiß.“

Die Bewegung: Urmutter aller kooperativen Supermärkte ist die seit 50 Jahren bestehende Food Coop in New York. In Deutschland gibt es unter anderem noch in München und Köln ähnliche Initiativen. „Gemeinsames Ziel ist, die Supermarktwelt zu revolutionieren.“ Dabei gehe es nicht dogmatisch zu. „Klar ist ein erhöhter Fleischkonsum aus Klimagründen nicht gut – in der Super Coop haben wir trotzdem Fleisch aus der Region“, sagt Eckert.

Durchboxen: Dass sie eine Festanstellung auf dem sogenannten ersten Arbeitsmarkt bekommen hat, ist für sie, wie so vieles, nicht selbstverständlich. Als ihre Eltern sie und ihre Zwillingsschwester in ihrem Heimatort, einer 7.000-Einwohner-Stadt dreißig Kilometer südlich von Leipzig, in der Grundschule anmelden wollten, hieß es: „Das schaffen wir nicht.“ Dabei, erklärt Viktoria Eckert, hätte sie keine Unterstützung beim Lernen benötigt. „Nur jemanden, der mich auf die Toilette begleitet.“ Das war 2001. „Da war Inklusion noch nicht so verbreitet.“

Ausbruch: Eckert musste in ein sogenanntes Förderzentrum in Leipzig. „Da gab es einen Zweig für körperbehinderte Kinder und einen für Kinder mit Lernschwächen.“ 2012 machte sie einen Realschulabschluss, „der höchste Abschluss an Förderschulen. In der Regel geht es danach in eine Werkstatt.“ Sie aber wollte Abitur machen. Für eine gymnasiale Oberstufe fehlte ihr eine zweite Fremdsprache, „an der Förderschule gibt es nur eine“. Ein Wechsel sei nicht vorgesehen. „Niemand hatte Erfahrung damit.“ Sie fand dann eine Schule in Brandenburg. Die habe wie ein Internat funktioniert. Unter der Woche lebte Viktoria Eckert dort bis zu ihrem Abitur.

Bilder mit feministischen Role Models hängen an der Wand

Selbstbestimmung: Seit dem Abitur ermöglicht ihr ein persönliches Budget, selbstbestimmt zu leben. Den Antrag dafür durchzubekommen, dauerte ein Jahr. Und es wurde ihr nicht leicht gemacht: „Sie haben Dinge gefragt wie: ‚Und brauchen Sie denn auch nachts Hilfe?‘“ Ihr Vater habe nur den Kopf geschüttelt. Auch Viktoria Eckert kann nur den Kopf schütteln bei der Erinnerung daran: „Ich hatte das Gefühl, sie hätten am liebsten, dass ich nachts einfach eine Windel trage.“ Jedes Jahr muss sie das persönliche Budget neu beantragen, „dabei wird sich an meinem Bedarf nichts ändern“. Eine reine Farce, wie sie meint.

Behindert werden: Auch sonst erlebt sie ihre Behinderung als ein Behindertwerden, „als strukturelles, gesellschaftliches Problem“. Sie erzählt von den vielen Bewerbungen, die sie geschrieben hat, als sie einen Job suchte: „Ich habe die Erfahrung gemacht, dass Unternehmen eher die Strafgebühr zahlen wegen Verletzung der Auflage, soundso viele Schwerbehinderte einzustellen, als tatsächlich Schwerbehinderte einzustellen.“ Dazu kämen Alltagshürden wie in Berlin etwa fehlende oder defekte Aufzüge an den U-Bahn­höfen. „Ich muss ständig umplanen, weil an U-Bahnhöfen der Aufzug defekt ist oder gar keiner existiert.“

Spontaneität: Schon als Kind musste sie erleben, dass ihr Radius eingeschränkter ist als der anderer: Während ihre Zwillingsschwester zu Fuß zur Schule und zurück kam und spontan Freunde besuchen konnte, war der Tag von Viktoria Eckert durch die Zeiten eines Fahrdienstes getaktet. Sie musste um 6 Uhr aufstehen und kam oft nicht vor 16 Uhr zurück: „Sie sammeln immer ganz viele auf ihren Fahrten ein.“ Spontaneität ist für sie bis heute nicht drin. „Ich kann nie spontan an die Ostsee – dafür müsste ich Tage vorher einen Hublift beantragen, der den Rollstuhl von der Bahnsteighöhe auf die Zughöhe anhebt.“ Sie sei eh kein spontaner Typ, sagt sie, „aber vielleicht ist das auch der Situation geschuldet“.

Vergleiche: Eckert meint, durch ihre Zwillingsschwester und ihre jüngere Schwester sehe sie, wie ihr Leben hätte sein können: „Aber ich kenne es ja nicht anders.“ Sie vergleicht sich nicht mit ihnen. Wohl aber die deutschen Standards von Inklusion mit denen, die sie bei Reisen in den Niederlande erlebt hat: „Dort sind sie viel weiter.“ Die Bordsteinkanten seien überall abgesenkt. Und auch Bahnfahren sei einfacher. Als sie einen Zug verpasste, sei für den nächsten schnell ein ausklappbares, manuelles Rampensystem gebracht worden.

Eckert ist in ihrer Wohnung von Grün umgeben

Loving Vincent: An der Wand hängt ein Druck von Vincent van Gogh. Zu ihm, erklärt sie, habe sie eine besondere Verbindung: „Ich mag seine Bilder sehr, aber auch seine tragische Lebensgeschichte.“ Sie schwärmt von dem Film „Loving Vincent“, den sie im Kino gesehen hat. Das Kino ist eine Leidenschaft von ihr.

Traum: Am liebsten würde sie journalistisch arbeiten. Ein Praktikum bei der „Abendschau“ des Regionalsenders rbb hat sie in dem Wunsch bestärkt: „Obwohl ich da oft eher Behindertenthemen bekommen habe.“ Mittlerweile schreibt sie für den Ortsteilblog Weddingweiser.

Anerkennung: Sie möchte nach den gleichen Maßstäben beurteilt werden wie andere. Als Kind habe sie öfter zu hören bekommen, dass die Bewertungen ihrer Leistungen nur dank Nachteilsausgleich zustande gekommen seien. Als im Praktikum beim Rundfunk nach ihrer Sendungskritik geklatscht wurde, war ihr unwohl: „Ich war nicht sicher, ob ich bejubelt werde, weil ich überhaupt spreche.“ In einem anschließenden Gespräch habe die Redakteurin gesagt, es sei eine brillante Kritik gewesen. Sie zuckt mit den Achseln. „Einen Job haben sie mir trotzdem nicht angeboten.“