Grünes Gold

Die Pistazie ist vom Hipster- zum Alltagssnack geworden. Für unseren Autor wird sie immer eine Brücke zwischen zwei Heimaten sein – auch wenn er sie dafür mühsam aus den Kofferritzen pulen muss

Von Volkan Ağar
(Text) und Imke Staats (Illustration)

Die Pistazie hat mich gerettet. Diese kleine Frucht mit der harten beige-weißen Schale, zur Spitze hin so weit geöffnet, dass der Nagel meines Zeigefingers gerade so hineinpasst, um die Schale auseinanderzureißen und die rotbraune Haut abzuziehen, wohinter ein grüner Kern aufleuchtet.

Für viele ist die Pistazie ein Trend. Spätestens letzten Sommer kam der Pistazien-Hype nach Deutschland. Und er hält an. Erst wurde das Pistazieneis, das viele Jahre unterschätzt wurde, plötzlich interessant. Dann kamen sizilianische Cannoli und Gebäck mit Pistazienfüllung in hippe Großstadt-Cafés. Und irgendwann konnte man sich Pistazien-Parfüm für 160 Euro bestellen und auf Instagram Designer-Küchen in Pistazien-Grün bestaunen.

Mir dagegen hat die Pistazie schon in der Kindheit Abende gerettet. Denn sie war das Einzige, was geschmeckt hat, wenn an Fernsehabenden oder bei Besuchen Schokolade, Gummibärchen, Chips und Kekse verzehrt waren, also das, was man in Deutschland so vor der Glotze snackt oder Gästen anbietet und worauf Kinder abgehen. Wenn das gute Zeug weg war, gab es bei uns nur noch diesen trockenen, gesunden Kram, nach dem die Älteren so verrückt waren.

Kuruyemiş nennen sie es in der Türkei. Gemeint sind alle möglichen Nüsse, aber auch andere herzhafte Snacks wie leblebi – geröstete Kichererbsen – oder ay çekirdeği – Sonnenblumenkerne. Mit den leblebi trieben wir gerne Unsinn: Wir steckten so viele in den Mund, bis wir Kichererbsenmehl auskeuchten und es so aussah, als hätten wir Kreide gegessen. Mit Sonnenblumenkernen, Erdnüssen, Mandeln, Haselnüssen, allesamt Teil der kuruyemiş-Mischung, die unsere Eltern Jahr für Jahr kiloweise aus der Türkei mitbrachten, konnten wir zuckersüchtigen Kinder nichts anfangen. Aber es gab eine Ausnahme: die Pistazie.

Die Pistazie war zwar auch trocken, aber ihr Geschmack beeindruckend. Sie war süß, funktionierte aber auch in Salzig. Und die Pistazie sah krass aus! Manchmal schälte ich sie, pulte die rote Haut weg, drehte sie zwischen Zeigefinger und Daumen hin und her und bewunderte ihr unverwechselbares Grün.

Vielleicht faszinierte die Pistazie auch so, weil sie selten war. Im kuruyemiş unserer Eltern war sie ein besonderer Fund, begraben unter Hunderten von Mandeln, Erdnüssen und Sonnenblumenkernen. Die Erwachsenen, die genauso um die Vorzüge der Pistazie wussten, hielten sich zwar uns Kindern zuliebe zurück, die Pistazien waren trotzdem rasch vergriffen.

Heute habe ich deshalb großen Respekt vor den Eltern. Denn wenn heute Pistazien vor mir liegen, kann mich nichts und niemand davon abhalten, sie zu essen.

Wären Pistazien nicht so teuer, würde ich vielleicht nur noch Pistazien essen.

Die Pistazie, deren Heimat der Nahe Osten ist, soll Adelstische gedeckt haben, weshalb sie die Menschen in der Türkei Königsfrucht nennen.

„Bruder, das ist grünes Gold!“, antwortete mir ein Baklava-Verkäufer in der Türkei einmal, als ich so frech war, ihn zu fragen, warum die fıstık sarma denn so teuer seien. Die süßen Pistazienwickel kosten in Deutschland schon 40 Euro pro Kilo. Der Baklava-Verkäufer, an dessen Schaufenster mich das Grün der Pistazien überwältigt hatte, wollte umgerechnet 30 Euro haben. Ich habe sie ihm gegeben.

Pistazien wachsen in Gebieten mit heißen und trockenen Sommern und kalten Wintern. Auf Türkisch heißt die Pistazie Antep fıstığı, benannt nach dem Produktions- und Vertriebszentrum des Landes Gaziantep in Südostanatolien. Wobei die Stadt Şanlıurfa damit nicht ganz einverstanden ist, weil sie sich selbst als das Pistazienzentrum sieht.

Pistazien sind so teuer, weil sie in wasserarmen Gebieten angebaut werden, aber viel Wasser brauchen. Dazu kommt, dass die Frucht, die in Trauben am Baum wächst, teils noch in Handarbeit geerntet und verarbeitet wird, damit sie nicht zu Schaden kommt. Obwohl die Türkei neben Iran und den USA, dem weltweit größten Produzenten, zu den wichtigsten Pistazienherstellern zählt, ist die Pistazie deshalb auch hier nicht gerade billig. Ein Kilo kostet in einem deutschen Supermarkt zwischen 14 und 30 Euro. Bei meinem letzten Kauf in der Türkei habe ich 17 Euro bezahlt.

Das ist viel Geld.

Aber darf einem Heimat nicht auch etwas wert sein?

Heute fische ich nicht mehr verzweifelt in Nussmischungen nach Pistazien. Wenn ich heute in die Türkei fahre, dann nehme ich nur einen halbvollen Koffer mit. Kurz vor meiner Rückreise nach Deutschland lasse ich mir in einem der vielen kuruyemiş-Läden Pistazien in Halbkilotüten abpacken.

Pistazien brauchen viel Wasser und sind teuer. Aber darf einem Heimat nicht auch mal etwas wert sein?

Zu diesem Ritual gehört dann auch, dass auf der Reise jedes Mal mindestens eine Tüte aufreißt und ich zu Hause in Deutschland beim Auspacken Pistazien aus den Kofferritzen und Falten meiner Klamotten befreien muss. Aber das mache ich gerne. Die Pistazie tröstet mich über den Abschied hinweg. Sie schafft eine Verbindung zwischen zwei Heimaten, die Tausende Kilometer voneinander entfernt liegen. Eigentlich müsste ich sie heute nicht mehr aus der Türkei mitbringen. Während man früher noch als cooler, exotischer Südländer auffallen konnte, wenn man statt einer Packung Erdnüsse ein paar Pistazien aus der Hosentasche hervorzauberte, ist die Pistazie in Deutschland heute so ausgefallen wie eine Brezel. Ihr Marsch durch die Supermarktregale ist vollzogen.

Heute gibt es Pistazieneis, Pistaziencreme und Pistazienpesto im Supermarkt. In der Bahnhofsbäckerei kann man sich ein Pistazien-Croissant kaufen und in der Drogerie einen Pistazienwaffelsnack.

All das sind Anzeichen einer Demokratisierung des Pi­sta­zien­ge­nus­ses. Wenn man kein elitärer Snob ist, dann kann man diese Entwicklung nur begrüßen. Die Frage ist, ob sich die Demokratisierung irgendwann auch auf den Preis niederschlägt – oder die erhöhte Nachfrage den Preis weiter erhöht. Zunehmende Wasserknappheit könnte Gleiches bewirken. Und dann stellt sich natürlich die Frage, wie gerecht es ist, so viel Wasser für Pistazien zu verbrauchen, wenn das Wasser woanders fehlt.

Vorerst aber lasse ich mich noch von der Pistazie retten. Wenn es irgendetwas gibt, das mich bedrückt, oder mich eine Sehnsucht überkommt, dann spaziere ich zu dieser einen Eisdiele. Jedes Mal nehme ich mir vor, auch mal eine der anderen vielversprechenden Sorten auszuprobieren. Wenn der Verkäufer mich dann aber fragt, was ich möchte, bekomme ich nur ein Wort raus: Pistazie.