berliner szenen: Ein Dreieck des Fressneids
Eine Frau mit einem kleinen vorwitzigen Hund und ich sitzen in der S-Bahn einem apfelessenden Mann gegenüber. Es kracht richtig, wenn er in den Apfel beißt, so knackig ist er. Der Hund, die Frau und ich sehen sehr interessiert zu, sodass der Mann irgendwann unangenehm berührt aus dem Fenster sieht. Wahrscheinlich mag er es nicht, wenn ihm andere Leute beim Essen zusehen, die selbst nichts essen. Ich nämlich auch nicht. Andersherum mag ich aber noch weniger, zusehen zu müssen, wie jemand mir gegenüber etwas ganz allein isst. Das geht sogar so weit, dass ich mir bei Verabredungen im Café immer zumindest etwas Kleines bestelle, selbst wenn ich absolut gar keinen Hunger habe. Eine Vorspeise oder eine Suppe gehen immer noch. Ich frage mich grad, ob das eine Form des Fressneids sein könnte, hole eine Laugenstange aus meiner Tasche, als der Mann den Apfelgriebs, den er mittlerweile zu einer kleinen sehr runden Kugel abgenagt hat, aus Versehen auf die Erde unter die Bank fallen lässt. Er bückt sich, aber bevor er ihn zu fassen bekommt, ist der kleine Hund schon dran, frisst ihn und leckt sich das Maul.
Der Mann sieht die Frau an. Sie grinst. „Darf er das essen? Ich dachte, die Kerne sind schlecht für Hunde?“, fragt er. Die Frau winkt ab: „Nich für meinen, was der alles verträgt! Aber was er gar nicht leiden kann, ist, wenn man ihm was vorisst.“ Die Frau grinst wissend.
Ach, er also auch, denke ich und sehe den Hund an. Der Mann guckt ebenfalls den Hund an. Der leckt sich grad die Schnauze mit seiner rosa Zunge und sieht zwischen mir und dem Apfel-Mann erwartungsvoll hin und her, ob vielleicht noch etwas abfällt. Der Mann sieht auf meine Laugenstange. Und irgendwie gibt es da ein unsichtbares Dreieck zwischen dem Apfel-Mann, dem Hund und mir. Ein Dreieck des Fressneids. Isobel Markus
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