zwischen den rillen: Europa, fernes Traumland
Beton gibt es auch in São Paolo: Zwei neue Compilations stellen den brasilianischen Postpunk der Achtziger vor
Karneval kann auch ein Fluch sein. Kaum ein Land hat eine so vielfältige Musikszene wie Brasilien, kaum ein Land ist seit den späten Fünfzigern musikalisch konstant so sehr auf der Höhe der Zeit – doch es kann passieren, was will: Wahrgenommen wird am Ende nur Samba. Wer die tragischen (und trashigen!) Folgen davon besichtigen möchte, der sollte sich einmal zum Berliner Karneval der Kulturen begeben. Auch wenn die Sambagruppen fast ausschließlich aus als Regenwaldgeistern verkleideten Kreuzberger Mittdreißigerinnen bestehen: Die Bilder, die am nächsten Morgen in den Zeitungen stehen, zeigen samt und sonders schwarze Männer und Frauen in aufwändigen Kostümen. Was natürlich auch wieder schön ist: So schafft Multikulti Jobs, irgendjemand muss den Deutschen ja beim Selbstverwirklichen helfen.
Doch Brasilien auf Samba zu reduzieren ist ungefähr so, als würde man die Popmusik der USA auf Soul beschränken: Tatsächlich hat Samba auch ähnlich viele Spielarten, ist ähnlich verwandlungsfähig und tief in der afrobrasilianischen Tradition verankert. Es gibt aber viel, viel mehr. Zum Beispiel Postpunk: Jene Musik, die man gerade in ihrer Faszination für Kälte und Beton, Neonlicht und Entfremdung sowie ihrem Anti-Rock-Impuls bisher vor allem im England oder Deutschland der späten Siebziger und frühen Achtziger vermutet hatte und nicht in Brasilien. Zwei gleichermaßen großartige neue Compilations beweisen das Gegenteil: „Não Wave“ des Berliner Labels Man Recordings und „The Sexual Life Of The Savages“ von Soul Jazz aus London.
Aufgebaut ist Postpunk brasilianischer Spielart ganz ähnlich wie seine europäischen Varianten: Die Gitarre ist reines Rhythmusinstrument, die Melodieführung wird von einem in den hohen Lagen gespielten Bass übernommen, und ansonsten wird wild herumexperimentiert: mit billigen Synthesizern, mit allen möglichen Rhythmen und Arrangements, gerne werden auch Geräusche in die Musik integriert. Und überaus beliebt ist der Flanger, ein Effektgerät, mit dem sich die Gitarrenspur zeitversetzt vervielfachen lässt – das klangliche Äquivalent zu dem Grau des beginnenden Neoliberalismus, gegen den die Bands ansangen.
Schön zu hören bei Aria S As Garotas Que Erram, einer der wichtigsten Gruppen dieser Szene und auf beiden Compilatons mit je zwei Stücken vertreten – der Bass federt sich durch das Punkfunkstück „Sobre As Pernas“, als wolle er jede Erinnerung an die Schwere seiner Frequenzen abstreifen, während die Gitarren opake Flächen übereinander schichten: Der Gesang erinnert an Ian Curtis. Oder die Gruppe Fellini, auch sie auf beiden Platten je zweimal vertreten: „Rock Europeo“ soll laut Liner Notes ein ironischer Kommentar auf die europäischen Vorbilder sein. Doch ohne die Lyrics verstehen zu können, kommt einem das Zusammenspiel von Bass und Gitarre wie eine wunderbare Joy-Division-Hommage vor – wäre da nicht jene Trompete, die gegen Ende zweieinhalb melancholische Töne dazwischenwirft.
Tatsächlich verlief die Geschichte des brasilianischen Postpunk ganz ähnlich wie in Europa. Er entstand aus Abgrenzung gegen einen genau definierten Feind: die bequem und langweilig gewordenen Vertreter des MPB, der música popular brasileira. Es gab eine verdrängte Tradition, auf die man sich bezog, vergessene Protagonisten des Tropicalia, jener Popbewegung der späten Sechziger, die die Psychedelia in Brasilien eingeführt hatten. Ein Bezug, der etwa bei Gang 90 und ihrem Stück „Jack Kerouac“ am deutlich wird – ähnlich wie die Tropicalistas einer Idee eines kulturellen Kannibalismus anhingen, der alle Informationen verschlingt, wird hier französischer Pop und amerikanisches Beatniktum mit einem Funkbass zusammengeworfen.
In der Szene selbst mischten sich Arbeiterkinder mit Kunsthochschulstudenten, wobei Letztere einer eigentümlichen Faszination für Europa anhingen, der Vision einer nicht US-amerikanischen Popmusik, was auch mit den Schwierigkeiten zu tun hatte, überhaupt europäische Platten zu bekommen, Musik aus jenem fernen Traumland. Die Agentss kündigen sich gar auf Deutsch an. Es dürfte eine ähnliche Faszination gewesen sein, die heute deutschen Techno weltweit so anziehend macht: Er steht eben auch für eine europäisch gedachte Moderne. TOBIAS RAPP
„The Sexual Life Of The Savages“ (Soul Jazz/NTT); „Não Wave. Brazilian Post Punk 1983 – 1988“ (Man Recordings/ Alive)
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