Sonne, Salzwasser und soziale Klasse

Eine Badeszene am Strand von Sochumi in Abchasien, 2013 Foto: Julien Pebrel/MYOP/laif

Von Bogdan Coșa

Heutzutage klingt das absurd oder zumindest schwer vorstellbar, aber in meiner Jugend habe ich ernsthaft geglaubt, Leute wie wir könnten das Meer nur im Fernsehen erleben. Dass dort nur reiche Leute hindürften: Ärzte, Anwälte, Fußballprofis, Menschen, die es geschafft hatten im Leben.

Noch heute höre ich meinen Vater eher schicksalsergeben als verbittert sagen: „Wer sind wir denn, ans Meer zu fahren? Ein Bauarbeiter und eine Verkäuferin. Arme Schlucker!“

Damit bin ich sicher nicht allein: Ich kannte als Kind zumindest in unserem Viertel niemanden, der je ans Meer gefahren wäre.

Sicher bekamen viele rumänische Kinder, die Söhne und Töchter von Proletariern, Ähnliches zu hören, wenn sie – in einem Augenblick der Träumerei oder des furchtlosen Überschwangs, kurz nach Anfang der Ferien, wenn der Sommer unendlich und voller Möglichkeiten schien – ihre Eltern fragten, ob sie nicht auch mal mit ihnen ans Meer fahren könnten; endlich, denn sonst war für sie ein Sommer wie der andere, den ganzen Tag lang spielen vor sozialistischen Plattenbauten, herumklettern auf den dicken Rohren, durch die im Winter der Wärmeträger strömte, um dann abends – voller Staub und Glaswolle und Rost – auf dem Teppich zwischen Elternbeinen zu lümmeln, während im Hintergrund ewig der Fernseher lief. Im Juni aß man Kirschen, verfolgte die Berichte über Badeurlauber, die verbrannt von der Sonne ins Krankenhaus mussten, und schloss daraus, dass die Betreffenden dort sowieso nichts verloren gehabt hatten, dass die Sonne sie aufgespürt und dafür bestraft hatte, dass sie sich als etwas anderes ausgaben als das, was sie in Wahrheit waren: arme Schlucker. Im Juli knackte man Aprikosenkerne und entrüstete sich einstimmig mit den großen Brüdern, wenn man hörte, was am Strand ein Eis kostet – und wenn man sah, wie fix und fertig die am Meer Gefilmten wirkten, lang hingestreckt auf Handtüchern und unter Sonnenschirmen schwitzend wie Wächter auf einem Melonenacker, es schauderte einen bei der Vorstellung, wie viel man schuften musste, um sich dort auch nur eine winzige Kugel zu leisten. (Kein Wunder, dass diese Leute gar nicht mal unbedingt glücklicher wirkten als die zu Hause gebliebenen Faulenzer.) Im August, das Gesicht halb in Wassermelone vergraben, wurde man ein wenig rot neben seiner Schwester, wenn man im Fernsehen die Frauen sah, die halbnackt, ja manchmal sogar oben ohne, im Sonnenaufgang am Strand herumhopsten, als hätte das Meer sie mit einem bösen Zauber verhext. Dann, im September, kamen sie wieder zur Besinnung, und Jahr für Jahr wurden dieselben Rentner an demselben verlassenen Strand interviewt, im Sonnenuntergang, bei pfeifendem Wind; alte Leute, die das ganze Jahr lang darauf sparten, sich die entzündeten Zehen in den schmutzigen, von Quallen und Algen verseuchten Wellen zu kühlen, doch vor allem, um sich daran zu erinnern, dass sie auch mal jung gewesen waren. Manche waren Ärzte gewesen, andere Anwälte – Menschen, die es im Leben geschafft hatten eben.

Ja, weil in den wilden Neunzigerjahren – für mich eine Zeit voll trister Erinnerungen –, nun einmal alles eine Frage des Status war, war auch das Meer eine Frage des Status, so hatte ich es zumindest verstanden, so war es von Vater zu Sohn übermittelt worden, weshalb ich es bis ins Alter von neunzehn Jahren für bare Münze nahm. Erst dann, mit 19, an dem Tag, als ich meinen ersten Lohn kassierte, fasste ich den Mut, meinem Vater zu sagen, ich sei bereit, die 400 Kilometer Straße anzupacken, die zwischen unserer Kleinstadt und dem Schwarzen Meer lagen. Trotz seines Einspruchs – offiziell weil ich nicht schwimmen konnte, inoffiziell weil keiner aus unserer Sippe so etwas je getan hatte – brach ich also auf. Es war eine Initiationsreise, und die ließ sich nicht mehr aufschieben. Ich musste um jeden Preis ans Meer, das war mir so klar wie nie zuvor – allerdings nicht unbedingt, wie man meinen könnte, um es endlich zu sehen, und auch nicht um überteuertes Eis zu schlecken oder bei Sonnenaufgang wie verhext am Strand zu tanzen, sondern vor allem, um mich zu vergewissern, dass auch ich es schaffen würde im Leben, dass ich einen Studienplatz in Medizin bekäme oder in Jura. Dass ich kein armer Schlucker bleiben würde.

Wenn ich heute zusehe, wie meine Tochter im Sand tollt und danach ohne jeden Hauch von Verlegenheit mit schmutzigen Füßen auf ihre Strandliege steigt, wie sie durch ihre Sonnenbrille mit den kätzchenförmigen Gläsern aufs Meer hinausschaut, ohne dabei auch nur ein einziges Mal daran zu denken, dass mindestens die Hälfte der Kinder in ihrem eigenen Land dieses Meer niemals sehen werden, obwohl es vielleicht nur einen Steinwurf von ihrem Zuhause liegt, überkommt mich dumpfe, konfuse Traurigkeit, und ich schwanke den ganzen restlichen Tag hin und her zwischen elender Schwermut und der rohen, heftigen Freude – die ich verbergen muss, für mich behalten, weil sie so eigennützig ist –, dass ich es geschafft habe. Dass das Meer für sie, für meine Tochter, das Natürlichste von der Welt ist und bleiben wird. Dass sie nie im Leben Strandurlaub an Pfützen spielen muss.

Im Juni aß man Kirschen, verfolgte die Berichte über Badeurlauber, die verbrannt von der Sonne ins Krankenhaus mussten, und schloss daraus, dass die Betreffenden dort sowieso nichts verloren gehabt hatten

Aus dem Rumänischen übersetzt von Jan Schönherr.