: Sünder mit Clostebol
Die Nummer 1 der Tennis-Weltrangliste der Männer, Jannik Sinner, wurde zweimal positiv auf Doping getestet und doch freigesprochen. Wie kann das sein?
Von Jörg Allmeroth
Als Jannik Sinner am Sonntag das Masters-Turnier in Cincinnati gewann, feierten die PR-Bataillone der Tennistour und Grand-Slam-Veranstalter den Südtiroler mit einem Feuerwerk. „Sin-sational“ sei der Triumph des Weltranglistenersten gegen den US-amerikanischen Lokalmatador Francis Tiafoe gewesen, rechtzeitig vor dem letzten Grand-Slam-Turnier der Saison, den kommende Woche beginnenden US Open.
48 Stunden später sah die Tenniswelt ganz anders aus. Wer den Namen des 23-jährigen Frontmannes des Herrentennis googelte, bekam nun „Sinner Doping“ oder „Sinner gedopt“ oder „Sinner Dopingtest“ serviert. Und wie immer im Tennis hatten diese Schlagworte nichts mit Vorgängen zu tun, die ein paar Tage oder Wochen zurücklagen, sondern viele Monate. Genau: fast ein halbes Jahr. Damals war Sinner bei zwei Dopingtests durchgefallen, einmal während des Megaturniers in Indian Wells, einmal bei einer Kontrolle außerhalb eines ATP-Wettbewerbs.
Niemand erfuhr von den beiden Fällen, in denen Spuren des Steroids Clostebol entdeckt wurden. Nichts von den Einsprüchen, nicht von zwei vorübergehenden Suspensionen, nicht von einem langen Untersuchungsprozess. Erst als Mitte August eine unabhängige Schiedsstelle Sinner freisprach, geriet die Affäre an die Öffentlichkeit. Und damit eine eigenwillig anmutende, abenteuerliche Geschichte. Denn zur Rechtfertigung trugen Sinners Beauftragte dies vor: Sein Fitnesstrainer Umberto Ferrara habe in Italien Trofodermin eingekauft, eine Creme zur Behandlung von Schnittwunden. Dann habe Sinners Physiotherapeut Giacomo Naldi sich seinerseits eine Schnittwunde zugezogen und sich mit der Creme behandelt. Schließlich habe Naldi Sinner ohne Handschuhe mehrfach massiert und dabei mit Clostebol kontaminiert, das in der Salbe enthalten ist.
Sinner wurde nach den Dopingtests zweimal für sehr kurze Zeit vom Wettkampfgeschehen ausgeschlossen (4. und 5. April, 17. bis 20. April), aber nach Einsprüchen und Anhörungen vorerst wieder zugelassen – so wie es die nicht unumstrittenen Regularien im Tennis vorsehen. Während die International Tennis Integrity Agency (ITIA) das Verfahren vorantrieb, spielte Sinner weiter. Allerdings pausierte er wegen körperlicher Probleme mehrfach, auch bei den Olympischen Spielen trat er nicht an.
Ein von der ITIA beauftragtes Expertengremium fand zuletzt Sinners Erklärungen glaubhaft. Nick Kyrgios, der streitbare Australier, sieht das allerdings nicht so: „Lächerlich. Du bist zweimal mit einer verbotenen Substanz erwischt worden, du solltest zwei Jahre raus sein.“ In der Tat sieht vieles nach einer Sonderbehandlung der Nummer eins aus.
Die Spielerorganisation ATP, geleitet von dem Italiener Andrea Gaudenzi, teilte derweil mit, es sei „ermutigend, dass Jannik Sinner weder Verschulden noch Fahrlässigkeit nachgewiesen werden konnte“. Man würdige die „unabhängige Bewertung der Fakten im Rahmen des Antidoping-Programms“, die es Sinner erlaubt hätten, weiter an Wettkämpfen teilzunehmen.
Amerikas führender Tennis-Journalist, Jon Wertheim, wies auf die typischen Ungereimtheiten und dubiosen Verfahrensabläufe hin – ein monatelanges Versteckspiel, Intransparenz und „Ungleichbehandlung“ von angeklagten Spielern. Der deutsche Dopingexperte Fritz Sörgel zeigte sich skeptisch über die Erklärungen des Sinner-Lagers: „Ich halte es für unwahrscheinlich, dass das Clostebol in solchen Mengen durch die Haut eindringt, dass es im Dopingtest auffällt.“ Andere wiesen darauf hin, dass es im italienischen Sport ein großes Clostebol-Problem gebe, etwa im Basketball. Die weltweite Antidoping-Agentur WADA kündigte an, man werde genau prüfen, ob Einspruch eingelegt werde.
Nick Kyrgios
Für den Tenniskosmos ist die Causa Sinner trotz Freispruchs ein Imageschadensfall, der an die Affäre Marija Scharapowa erinnert. Die Russin war vor acht Jahren wegen Dopings mit Meldonium erwischt und nach Geständnis gesperrt worden, erst kürzlich machte sie ihren früheren Manager verantwortlich.
Während Scharapowa damals am Ende ihrer Karriere stand, rückt mit Sinner ausgerechnet der Spieler in den kritischen Fokus, dem zugetraut wird, gemeinsam mit dem Spanier Carlos Alcaraz das Erbe der Großen Drei in seinem Sport anzutreten, das Erbe von Djokovic, Federer und Nadal. Anfang des Jahres hatte Sinner seinen bisher größten Coup mit dem Sieg bei den Australian Open gelandet, zuvor war er Ende 2023 mit dem italienischen Team Davis-Cup-Gewinner geworden. Sinner, der Naturbursche aus dem Pustertal, galt stets als bodenständig, unprätentiös, natürlich – ein junger Mann mit einnehmendem Wesen, frei von jeder Arroganz oder Dünkelhaftigkeit. Nun allerdings wird er sich neuen Herausforderungen stellen müssen, etwa dem Kampf gegen latentes Misstrauen, gegen Zweifel von Fans und Beobachtern.
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