Die Wahrheit: Die Urlaubsvögel
Nicht nur in Venedig, sondern auch in Grömitz gibt es Untiere, die aus der Luft angreifen und die wohlverdienten Speisen der Urlauber stehlen.
D as Combo Venezia im Stadtteil Cannaregio haut ziemlich auf den Putz mit seiner toffen Historie. Das Hotel war nämlich mal ein Mönchskloster. Entsprechend großzügig bemessen ist der von einem pittoresken Säulenwandelgang gesäumte Innenhof, wo schon im 12. Jahrhundert kurios frisierte Männer mit Volldampf das Christkindl priesen.
Mittlerweile darf man hier den lieben Gott einen guten Mann sein lassen und frühstücken. Die Tauben wissen das auch und machen eher alibimäßig einen Hopser zur Seite, wenn man nach ihnen tritt, weil man es ja sowieso nicht ernst meint. Oben auf dem höchsten Büßerturm indes thront eine riesige Lachmöwe und schüttet sich aus über die Hotelgäste in einer Mischung aus beißendem Spott und Verachtung.
Wie ernst sie es meint, merken wir dann bald. Ein Junge stellt sein Tablett auf einen freien Tisch und entfernt sich ein paar Schritte, um mehr Stühle heranzuschaffen. Jäh stürzt sich die Möwe vom Dach, im Bruchteil einer Sekunde schlingt sie in zwei gewaltigen Happen Spiegelei, Schinken und Mortadella herunter, um sich dann wieder unter bestialischem Gelächter in die Lüfte zu erheben.
Ein zwischen Unbehagen und Respekt changierendes Raunen geht da durch die Frühstücksgesellschaft, zum einen über die schiere Größe des Tiers, zum anderen über dessen Wildheit und überlegenen Jagdinstinkt. „Keiner ist hier wirklich sicher“, gibt uns das Viech deutlicher als nötig zu verstehen. Und so behalten wir es für den Rest des Urlaubs im Auge, und stehen schließlich sogar eine Stunde früher auf, um im Frühstücksraum drinnen einen Platz zu bekommen.
Wer glaubt, der spiritus loci sei schuld, das überfüllte Venedig setze sich auf quasi natürliche Weise gegen die Touristenströme zur Wehr, sieht sich offenbar getäuscht. „Wenn du damit schon ein Problem hast, darfst du nicht nach Grömitz fahren“, warnte mich nämlich unlängst Freund Bernd. „An der Ostsee sind sie schon weiter!“
Er war ein paar Wochen zuvor bei einem Kurzurlaub die Strandpromenade entlang flaniert, hatte sich einen Schoko-Crêpe gekauft und wollte gerade einen ersten Bissen nehmen, als er einen schweren Schlag gegen seinen Hinterkopf verspürte. Benommen drehte er sich um und sah in den keckernden Schnabel eines räudigen, dennoch fetten Watvogels.
„Hau ab, du Untier“, rief er, wich erschrocken zurück und versteckte seinen Nutella-Pfannkuchen hinterm Rücken. Entsetzt von soviel animalischer Chuzpe bemerkte er nicht, wie bereits zwei weitere Sturzkampfbomber im Federkleid abtauchten, ihm den Pfannkuchen zielsicher entrissen und sich damit auf und davon machten, ohne sich auch nur ein einziges Mal umzudrehen.
„Mich hat das fatal an,Jurassic Park' erinnert“, meinte Bernd und sein Gesicht näherte sich meinem, als wollte er mir etwas anvertrauen, dass nicht jeder hören durfte. „Sie jagen im Rudel“, raunte er. „Und es sind viele!“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!