„Dieser Ort ist eine Mahnung“

Im August 1994 verließen die letzten russischen Soldaten Deutschland. In Wünsdorf südlich von Berlin lag deren Hauptquartier mit Bunkern, Schutzräumen, einem Theater und Schwimmbad. Seit 25 Jahren führt Sylvia Rademacher durch die einst verbotene Stadt

Interview Thomas Gerlach
und Edith Kresta

wochentaz: Frau Rademacher, Wünsdorf ist geprägt von Militär und Besatzung. Es war auch ein Stück weit Sowjetunion in der DDR. Vor 30 Jahren sind die letzten russischen Soldaten abgezogen. Für Sie ist dieser Ort zur Lebensaufgabe geworden. Warum?

Sylvia Rademacher: Als Studentin der Filmhochschule Potsdam war ich zum ersten Mal hier im Studentensommer. Das waren zu DDR-Zeiten obligatorische Arbeitseinsätze für alle Studenten. Wir haben Kabelgräben geschippt, jenseits der Bahnlinie, im deutschen Bereich. Und auf der anderen Seite der Bahn war der sowjetische Bereich. Und da war eine Schranke und du bist da nicht hingekommen. Das wusste man. Da hast du dir auch nicht so große Gedanken gemacht. Ich hätte mir als Studentin damals nicht träumen lassen, dass ich irgendwann in Wünsdorf wohne.

taz: Wann sind Sie hierhergezogen?

Rademacher: Ich bin vor einem Vierteljahrhundert hergekommen und ich habe immer versucht, da, wo ich hingegangen bin, die Dinge für mich zu absorbieren. Wenn man nur ein paar Hundert Meter von der Bunkeranlage entfernt wohnt, ist das natürlich ein Thema.

taz: Und dann sind Sie in dieses Thema reingewachsen?

Rademacher: Ich habe hier erst einmal Führungen gemacht, freiberuflich.

taz: Was erzählen Sie über die sowjetische Besatzung?

Rademacher: Im Sommer 1952 wurde der militärische Sitz des Oberkommandos der sowjetischen Besatzungstruppen in Deutschland von Potsdam-Griebnitzsee nach Wünsdorf verlagert. Nach und nach erfolgte dann der Umzug in die Kasernen der ehemaligen Wehrmachts-Panzertruppen. In die Mitte der Bunkeranlage Maybach I, die 1937 bis 1939 im Auftrag der Wehrmacht errichtet wurde, baute man neue Gebäude hinein. Hier war die 16. Luftarmee stationiert, die Luftüberwachung und die Luftverteidigung, auch für den Bereich DDR. Seit Mitte der achtziger Jahre gab es einen noch größeren Schutzraum, wo dann die Luftüberwachung stattfand. Dort liefen sämtliche Informationen zusammen. Das alles kann man besichtigen.

taz: Es war also vor allem eine Informationszentrale?

Rademacher: Ja, und das Ganze ging dann, abgespeckt, bis 1994. Schon zwei Jahre zuvor hat man mit dem Rückbau begonnen. Die Russen sind nicht schlagartig im August 1994 raus und haben alles stehen und liegen lassen. Das war ein mehr oder weniger geordneter Rückzug.

Sylvia Rademacher

Foto: Rademacher

geb. 1963, hat viele Jahre als Dokumentarfilmerin und TV-Journalistin gearbeitet und ist heute die Geschäftsführerin der Bücherstadt-Tourismus GmbH, die Führungen anbietet und ein Antiquariat betreibt. Mehrere Mitarbeiter führen im Jahr etwa 15.000 Besucher über das Areal in Wünsdorf.

taz: Was interessiert die Leute besonders, die Bunkeranlagen?

Rademacher: Natürlich auch die Bunker. Es gibt auch welche, die sind auf Lost Places aus. Aber so etwas Verlorenes sind wir gar nicht. Die Leute können, außer montags, Bunkerführungen machen in allen Variationen. Die Leute sind an der Geschichte interessiert.

taz: Es geht nicht nur um die sowjetische Besatzung?

Rademacher: Es ist ein geschichtsträchtiger Ort, an dem sich Militärgeschichte abgespielt hat. Wer sich für Geschichte interessiert, weiß, dass hier das Oberkommando des Heeres gesessen hat, hier wurde der Plan „Barbarossa“ für den Angriff auf die Sowjetunion ausgearbeitet, und später war es der Hauptsitz der Weststreitkräfte der Sowjetarmee.

taz: Präsent ist aber vor allem die sowjetische Zeit.

Rademacher: Die sowjetischen Hinterlassenschaften sind so präsent, weil die Sowjets so lange hier waren. Doch allzu viel verändert haben sie nicht. Viele der Bauten, auch das Haus der Offiziere, sind schon 1916 in Betrieb genommen worden. Die Geschichte spiegelt nicht nur die sowjetische Zeit wider. Der Bogen spannt sich von der Kaiserzeit bis heute.

taz: Und trotzdem ist Wünsdorf stark überformt durch die Sowjetunion?

Rademacher: Das schon. Wünsdorf war schließlich der Sitz der Westgruppe der sowjetischen Streitkräfte. Aber die Erinnerung im Ortsbild verblasst immer mehr. Deswegen haben wir hier in diesem Frühjahr zum 30. Jahrestag des Abzugs eine Ausstellung gemacht. Die Resonanz war enorm. Wir konnten übrigens auch Tausende Fotos verwenden, die uns ehemalige Soldaten zugeschickt haben. Wir haben gestaunt, dass es so viele gibt. Der Kurator ist derzeit dabei, daraus ein Buch zu machen, das im Herbst erscheinen soll.

taz: Stimmt der Eindruck, dass sich vor allem Ostdeutsche für diesen Teil der Geschichte interessieren?

„Wer sich für Geschichte interessiert, weiß, dass hier auch das Oberkommando des Heeres gesessen hat, hier wurde der Plan ‚Barbarossa‘ für den Angriff auf die Sowjetunion ausgearbeitet“

Rademacher: Wir haben einen großen Mix an Besuchern. Das merkt man, wenn die Urlaubszeit beginnt. Es kommen Holländer, Schweizer, Polen, sehr viele Leute aus Süddeutschland. Es waren übrigens auch schon viele Russen hier, die hier stationiert waren. Die kamen mit ihren Kindern oder Enkeln und waren immer ganz begeistert. Dass hier nur Ostdeutsche kommen, stimmt nicht.

taz: Wie erinnern sich denn die Einheimischen an das sowjetische Wünsdorf?

Rademacher: Man hat ja große Umwege gehen oder fahren müssen. Du konntest nicht auf der B 96 mitten durch Wünsdorf fahren. Da stand dann plötzlich ein Schlagbaum. Ein älterer Herr erzählte mir, dass einmal Soldaten mit ihrem Geländewagen in seinen Gartenzaun gerauscht sind. Am nächsten Tag sind sie wiedergekommen, haben den Zaun repariert und noch eine Flasche Wodka auf den Tisch gestellt. Damit war es erledigt.

taz: Die Sowjets haben die Dinge eher nach Gutsherrenart gelöst?

Rademacher: Ich glaube, das ist ein falsches Bild, das vor allem im Westen existiert und vielleicht auch bewusst falsch erzählt wird, in der Art: Der Russe an sich ist böse. Als ich noch als Journalistin arbeitete, habe ich mit einem Offizier der Bundeswehr gesprochen, der damals von bundesdeutscher Seite den Abzug mit verantwortet hat. Und er hat mir gesagt: Wir alle haben gedacht, die Russen tragen Hörner unterm Hut. So ist es ihnen ja über Jahrzehnte erzählt worden.

taz: Glauben Sie, dass es einen Unterschied in der Wahrnehmung zwischen Ost und West gibt?

Zurück in die Heimat: ein russischer Offizier packt 1994 in Wünsdorf seine Koffer Foto: Axel Kull

Rademacher: Auf jeden Fall! Im Osten hat man mit ihnen gelebt, und daher glaube ich, dass es den Menschen im Osten eher bewusst ist, welche Rolle die Sowjetunion beim Sieg über die Nazis gespielt hat und was wir den Soldaten zu verdanken haben.

taz: 30 Jahre nach dem Abzug der Russen präsentiert sich Wünsdorf vollkommen friedlich. Das könnte sich möglicherweise wieder ändern. Hat sich das Heimatschutzministerium schon für die Bunker interessiert?

Rademacher: Die Frage ist, ob ich sie dann reinlassen würde. Außerdem hat der Bunker ja ein Loch, das müsste repariert werden. Das Ganze steht unter Denkmalschutz, außerdem müssten sie uns dann auch noch enteignen.

taz: Wir hätten erwartet, dass Sie das kategorisch ablehnen.

Rademacher: Ich bin auch dagegen. Dieser Ort ist eine Mahnung, dass man nicht so unbedarft in irgendwelche Kriege schlittern sollte!