Neuer Fluchtbericht von UNHCR und IOM: „Extremer Horror“ auf der Route

Von Versklavung bis Entführung: Die UN-Organisationen UNHCR und IOM berichten, was Flüchtende auf dem Weg zum Mittelmeer erleiden.

Migrant:innen auf einem weißen Boot

Gerettete Mi­gran­t:in­nen an Bord eines Patrouillenboots der zypriotischen Seepolizei werden in den Hafen von Protaras, Zypern gebracht Foto: Petros Karadjias/AP

BERLIN taz | Er habe „Angst gehabt, was wir finden würden“, sagte Vincent Cochetel, der Sonderbeauftragte des UN–Flüchtlingswerks UNHCR für das Mittelmeer. Die Antwort stand schon in der Ankündigung für die Vorstellung des UN-Berichts am Donnerstag in Genf: Es sei „extremer Horror“, dem Flüchtlinge und Mi­gran­t:in­nen auf dem Weg zum Mittelmeer ausgesetzt seien. Es ist eine ungewöhnlich drastische Formulierung, die UNHCR und die UN-Migrationsorganisation IOM wählten, um auf ihre Befunde aufmerksam zu machen „an die wir uns nicht gewöhnen dürfen“, wie Cochetel sagte.

31.500 Menschen hatten UNHCR und IOM in den vergangenen drei Jahren in Italien und afrikanischen Ländern dazu befragt, was ihnen auf der Flucht Richtung Europa widerfahren war. „Das ist eine Masse an Evidenz, die nicht ignoriert werden kann“, sagte Cochetel.

Die Befragten berichteten von Folter, körperlicher Gewalt, willkürlicher Inhaftierung, Tod, Entführung zur Erpressung von Lösegeld, sexueller Gewalt und Ausbeutung, Versklavung, Menschenhandel, Zwangsarbeit, Organentnahme, Raub, kollektiver Ausweisung und Abschiebung. Und in allen Bereichen sei bei der nun durchgeführten Befragung ein höherer Anteil Betroffener festgestellt worden als in frühreren Jahren, so Cochetel.

Schon 2019 hatte Cochetel die Befürchtung geäußert, dass in der Sahara womöglich mehr Menschen zu Tode kommen könnten als auf dem Mittelmeer. Erst vor wenigen Tagen waren die Leichen von 20 Menschen in dem Wüstengebiet zwischen Kufra im Südosten Libyens und der Grenze zum Tschad gefunden worden. Der Fahrer war vom Weg abgekommen, er und alle Passagiere starben.

700 Prozent mehr Tote innerhalb eines Jahres

Cochetel fürchtet, dass die Dunkelziffer solcher Unglücke sehr hoch liegt. „Wir wünschten, wir hätten so viel harte Daten für die Toten auf den Landrouten, wie wir sie heute für das Meer haben“, sagt er. Wenn Menschen wegen der enormen Strapazen auf den mehrtägigen Touren krank würden oder sterben, würden sie von den Pick-Ups geworfen oder fielen herunter, sagt Cochetel. „Nicht jeder, den wir in Lampedusa befragen, hat auf dem Meer jemand sterben sehen. Aber jeder, der die Wüste durchquerte, sah, wie jemand dabei starb.“

Bram Frouws von der IOM wies auf einen Anstieg der Toten auf der Route von Westafrika zu den Kanaren um 700 Prozent innerhalb eines Jahres hin. Rund 5.000 Menschen sollen auf dieser Route seit Januar ertrunken sein.

Flüchtlinge und Mi­gran­t:in­nen seien auf See und auf den Landrouten „weiterhin extremen Formen von Gewalt, Menschenrechtsverletzungen und Ausbeutung ausgesetzt“, heißt es in dem Bericht. Ursachen seien die sich verschlechternde Situation in den Herkunfts- und Aufnahmeländern, der Ausbruch neuer Konflikte in der Sahelzone und im Sudan, die Auswirkungen des Klimawandels sowie ein Anstieg von Rassismus gegen Flüchtlinge und Migrant:innen.

Im Transit seien Menschen oft gezwungen, Gebiete zu durchqueren, in denen aufständische Gruppen, Milizen und kriminelle Banden Menschenhandel, Entführung zur Erpressung von Lösegeld, Zwangsarbeit und sexuelle Ausbeutung betreiben. Schmuggelrouten verlagern sich in entlegenere Gebiete, um Konfliktzonen oder Grenzkontrollen zu vermeiden. So seien die Menschen auf der Flucht noch größeren Risiken ausgesetzt.

Entlang der Fluchtrouten braucht es Schutz

Bram Frouws kritisierte eine „nahezu vollständige Straflosigkeit“ von kriminellen Gangs und Staatsbediensteten für ausgeübte Gewalt gegen Migrant:innen. Es könne nicht darum gehen, einzelne Pick-Up-Fahrer in Niger ins Gefängnis zu stecken, „aber die direkt Verantwortlichen für all diese Gewalt weiter gewähren zu lassen.“

Die Menschen müssten entlang der Fluchtrouten besser geschützt werden, verlangen die Organisationen. Fluchtursachen müssten besser bekämpft werden, unter anderem durch mehr Friedensanstrengungen, mehr Armutsbekämpfung und konkrete Maßnahmen zum Schutz vor den Folgen des Klimawandels.

Die Angst vor der irregulären Migration verhindere oft, dass klar benannt und kritisiert werde, was auf den Migrationsrouten geschehe. „Das ist völlig inakzeptabel,“ so Frouws.

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