„Die EU braucht eine Rosskur“

Der sächsische Innenminister Armin Schuster (CDU) fordert die strikte Zurückweisung von Geflüchteten an der deutschen Grenze. Ein Gespräch über EU-Recht, das Grundrecht auf Asyl, die Gefährdung der Demokratie und die AfD

Armin Schuster in Steppjacke mit Plakatierern

Der sächsische Innen­minister Armin Schuster beim Plakatieren Anfang Juni in Leipzig. Die Eisenbahnstraße hat einen hohen Migranten­anteil und das niedrigste Durchschnittsalter der Stadt Foto: Sebastian Willnow/dpa

Interview: Konrad Litschko
und Sabine am Orde

taz: Herr Schuster, die Sicherheitslage ist angespannt, Sie sind als Innenminister gefordert – und gleichzeitig Wahlkämpfer in der Sächsischen Schweiz. Lässt sich das vereinbaren?

Armin Schuster: Das geht tatsächlich an die Substanz. Ich kann das Ministerium nicht vernachlässigen. Aber ich war ja Gott sei Dank elf Jahre Abgeordneter im Bundestag, daher ist mir das Kandidatendasein nun wirklich nicht fremd.

Aber Sie selbst sind vielen Sachsen fremd im Wahlkreis. Sie kamen erst 2022 hierher, als Innenminister – als „Wessi“. ­Ihren Wahlkreis holte 2019 schon die AfD. Wie wollen Sie das noch drehen?

Ich bin mein ganzes Leben, berufsbedingt, durch die Republik herumgewandert. Dass ich der Neue bin, habe ich gefühlt schon 100-mal hinter mir. Wenn ich im Wahlkreis Leute kennenlerne, heißt es aber oft: „Der ist gar nicht so übel.“ Das ist ja schon mal was. Der Wessi wird mir persönlich – denke ich – nicht angeheftet. Aber allgemein ist das Thema noch da, das kann man schon mit Händen greifen.

Was ist Ihr Konzept, um die AfD zu schlagen?

Das sitzt vor Ihnen.

Wie meinen Sie das?

Ich werde im Wahlkreis natürlich inhaltliche Akzente setzen. Aber vor allem geht es darum: Was ist das für ein Mensch? Das ist die Lücke, die die AfD lässt: Bei denen kommt kein Mensch rüber. Diese Partei setzt ja selbst bei Bürgermeisterkandidaturen ausschließlich auf Bundesthemen. Das ist nicht mein Stil. Es geht hier um die Region, deshalb treffen Sie mich bei Feuerwehrfesten oder bei allen möglichen Gelegenheiten – und da politisiere ich nicht. Ich möchte den Menschen klarmachen: Wenn sie mich wählen, bin ich auch für das kleinste Problem vor Ort ansprechbar.

Sie traten 2015 für strenge Grenzkontrollen ein, stellten sich gegen Merkel, fordern auch heute migrationspolitisch Härte. CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann hat gerade gesagt, die drei großen Probleme seien: Migration, Migration, Migration. Dem schließen Sie sich dann wohl an?

Mit Blick auf die kommenden Wahlentscheidungen hat er mit Sicherheit Recht. Wenn man hier die Leute nach ihren Sorgen fragt, taucht das Thema an erster Stelle auf, mit Abstand.

Ist es sinnvoll, derart auf ein Thema zu setzen, das vor allem die AfD bespielt?

Es ist schwierig, aber ich tue es trotzdem. Und wer sorgfältig zuhört, wird hier einen deutlichen Unterschied zwischen CDU und AfD bemerken. Wir sind als CDU – mit einer Ausnahme, die uns schwer nachhängt, 2015 – immer für eine kontrollierte Migration eingetreten. Auch zuletzt haben wir hier Vorschläge gemacht, die von der Ampel anfangs vehement bekämpft wurden: Grenzkontrollen, Bezahlkarte, Abschiebung von Intensivtätern. Heute macht die Ampel all dies. Hätte sie das gleich umgesetzt, hätte das der AfD nicht so in die Karten gespielt.

Es gibt gute Gründe, diese Maßnahmen kritisch zu sehen. Dauerhafte Grenz­kon­trol­len wären ein Verstoß gegen das EU-Recht. Das wollen Sie?

Die EU braucht eine Rosskur und wahrscheinlich eine maximal harte. Ein Beispiel: Das Ergebnis der Grenzkontrollen bei der Europameisterschaft – mit tausenden registrierten unerlaubten Einreisen und hunderten vollstreckten Haftbefehlen – war zwar einerseits ein Supererfolg, aber auch ein Offenbarungseid für das Schengensystem. Es zeigt: Kaum einer unserer Partner in der EU tut noch das, was vereinbart ist.

Sie würden die Freizügigkeit aufgeben, eine der Kernerrungenschaften der EU – in einer Zeit, wo die EU ohnehin unter Druck steht?

Das wird ja nicht passieren. Wenn Deutschland eine sehr konsequente politische Antwort gibt.

Und die wäre?

Der Rest Europas lebt doch wunderbar damit, dass Deutschland für Asylbewerber so attraktiv ist, da müssen wir ansetzen. Deshalb müssen wir die Grenzkontrollen noch konsequenter als jetzt fahren, also mit Anwendung der Drittstaatenregelung nach §18.2 Asylgesetz …

… also die Zurück­weisung von Geflüchteten an der Grenze?

Genau.

Laut EuGH verstößt das gegen Europarecht.

Niemand hält sich mehr an das Dublin-Abkommen, das ja besagt: Ihr müsst erst den Status der Person prüfen und wenn diese aus Italien kommt, dann soll sie nach Italien zurückgeführt werden. Nur dieser zweite Schritt passiert ja nicht. Inzwischen haben wir sogar Gerichte, die meinen, man dürfe nach Belgien keine Dublin-Überstellungen mehr machen. So geht das doch nicht! Wenn ein komplettes System zum Erliegen gekommen ist, kannst du dich auch zum Idioten machen, wenn du als Einziger daran festhältst. Ich vernehme inzwischen auch von einigen juristischen Experten, dass man diese Position immer mehr nachvollziehen kann.

Der EuGH hat im vergangenen Jahr anders geurteilt. Hinzu kommt: Wenn erst Deutschland zurückweist, dann Polen – dann kommt es zu Kettenabschiebungen, die an der EU-Außengrenze enden und das Grundrecht auf Asylrecht aushöhlen. Wollen Sie das?

Das meine ich mit Rosskur. Ich bin fest davon überzeugt: Wenn wir aufhören mitzuspielen und sich die Auswirkungen der Migration wieder über ganz Europa erstrecken, erst dann werden unsere Partner bereit sein, das Problem zu lösen. Politisch ist Europa ja keine Ver­eini­gung von Menschen, die sagen, wir wollen überhaupt keine Asylbewerber. Aber bislang finden doch die meisten ihren Weg nach Deutschland. Das überfordert unsere Möglichkeiten zur Aufnahme mit humanitärem Anspruch bei Weitem.

Ihr Vorschlag würde zu Geflüchtetenlagern in EU-Grenzstaaten wie Griechenland führen oder zu Abschiebungen in die Türkei und von dort weiter. Leib und Leben der Menschen wäre nicht mehr sicher.

Ich habe in der Union die flexible Obergrenze mitentwickelt. Der Kanzler könnte das umsetzen. Er könnte mit den Ministerpräsidenten jedes Jahr festlegen, wie viele Menschen wir aufnehmen. Das wäre eine weltweit immer noch beachtenswerte humanitäre Haltung, die wir auch stemmen könnten.

Aber das Grundrecht auf Asyl wäre dahin. Sie treten für eine Kontingentlösung ein, wollen eine Obergrenze von 200.000 Asylsuchenden. Was machen Sie mit dem 200.001?

Ganz ehrlich? Das ist ein so sim­pli­fizierendes Argument, das sprengt mir fast das Kleinhirn. Wir hatten 2016/17 in der Union darüber einen Konflikt, der bis an die Existenz der Fraktionsgemeinschaft von CDU und CSU ging. Danach haben wir uns geeinigt und seit 2017 mit der flexiblen Obergrenze 200.000 gearbeitet. Mit Grenzkontrollen in Bayern, mit Kontingentvereinbarungen mit Italien, Malta, Griechenland und dem Türkei-Abkommen oder dem Aussetzen des Familiennachzugs haben wir sie eingehalten.

Das Türkei-Abkommen funktioniert schon lange nicht mehr, und damals gab es auch keinen russischen Angriffskrieg in der Ukraine.

Stimmt, warum das Türkei-Abkommen nicht mehr funk­tio­niert, müssen Sie den Bundeskanzler fragen. Die Ukrainer gelten nicht als Asylbewerber, sind aber eine immense Herausforderung für unser Integrationssystem.

Als Innenminister haben Sie Rechts- wie Linksextremen den Kampf angesagt. Zuletzt gab es vor allem Razzien und Festnahmen in der linken Szene, Ak­ti­vis­t*in Maja T. wurde von der JVA Dresden nach Ungarn ausgeliefert. Ist das die richtige Priorität in Sachsen?

Vielleicht wird das anders wahrgenommen, aber wir machen die meisten Maßnahmen tatsächlich gegen die rechtsextreme Szene. Der Rechtsextremismus ist eine enorme Herausforderung, schon quantitativ – und weil man aufpassen muss, dass dieser keine Anschlussfähigkeit an die Mitte der Gesellschaft erreicht. Der Linksextremismus ist ein völlig anderes Phänomen, das ganz anders angegangen werden muss. Aber wenn dort Extremisten schwerste Gewalttaten begehen oder man sich bei einem aktuellen Indymedia-Beitrag fragen muss, ob es sich hierbei um eine unverhohlene Terrordrohung gegen Polizisten oder Richter handelt, dann sage ich, mir reicht’s. Dann will ich das begradigen. Was mir wirklich Sorge bereitet, wie auf der linken Seite die Kreise verschwimmen: die Protagonisten der progressiv urbanen Stadtgesellschaft, die Aktivisten der linken Szene und dann die extremistischen Gewalttäter. Wer ist Täter, wer gibt Deckung, wenn in Leipzig ein Autohaus brennt? Wer hat Frau Klette in Berlin Deckung gegeben?

Auf der anderen Seite stehen eine starke rechtsextreme AfD, provozierende Freie Sachsen, rechte Gewalt: Muss da nicht mehr getan werden?

Da wird doch viel getan, auch mit unserem Gesamtkonzept gegen Rechtsextremismus, der uns eindeutig am stärksten beschäftigt. Unser Expertennetzwerk bei der Landesdirektion ist noch komplett auf dieses Thema fokussiert. Und im Freistaat Sachsen, als eines von drei Ländern, wurde die AfD vom Verfassungsschutz als rechtsextremistisch eingestuft – und das aktuell gerichtlich bestätigt. 13 andere Bundesländer haben das noch nicht getan.

Sie sprachen von einer drohenden Anschlussfähigkeit der Rechtsextremen. Ist die nicht längst gegeben, mit jüngsten Wahlergebnissen für die AfD in Sachsen von bis zu 36 Prozent?

Da würde ich erst mal die Landtagswahlen abwarten. Beim Europawahlkampf konnte die AfD noch abstrakt schwa­dro­nie­ren, aber jetzt wird’s konkret. Immer wenn es vor Ort darauf ankommt, wenn es um Bürgermeister oder Landräte geht, dann entscheiden die Wähler bisher anders.

Armin Schuster ist seit 2022 CDU-Innenminister in Sachsen. Bei der Landtagswahl will er einen Wahlkreis im Erzgebirge von der AfD zurückholen. Zuvor war der Baden-Württemberger Präsident des Bundesamts für Bevölkerungsschutz in Bonn, davor Bundestagsabgeordneter. Ab 2015 war er scharfer Kritiker von Merkels Flüchtlingspolitik.

Aber Umfragen wie der Sachsenmonitor zeigen: Demo­kratie­feindliche Einstellungen sind weit verbreitet.

Das wird allgemein so gewertet. Aber wenn fast die Hälfte der Befragten sagt, ich wünsche mir eine Einheitspartei mit klarer Führung, dann heißt das doch nicht, sie wollen die alte SED zurück – totaler Quatsch. Dann heißt das, dass in Zeiten vieler Krisen eine Sehnsucht nach klarer Orientierung und konsequent geführter Politik besteht. Das kann ich nachvollziehen.

Sie sehen keine Gefährdung der Demokratie?

Nein.

In der CDU werden immer wieder Forderungen nach einer Zusammenarbeit mit der AfD bekannt. Halten Sie das für ausgeschlossen?

Ja. Allein schon deshalb, weil wir – die CDU – von der AfD als das Feindbild schlechthin dargestellt werden. Deren Ziel ist es, uns zu vernichten, wie sie es wörtlich formulieren. Ich habe in der CDU-Sachsen noch niemanden getroffen, der derart suizidale Anwandlungen hat.