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Rudelgucken zur EMOhne „Wir“ im ruhigen Biergarten

Unser Autor findet fürs Halbfinale einen Biergarten ganz ohne Tri­kot­trä­ge­r:in­nen und Fahnen. Das wirkt wie aus der Zeit gefallen.

Der klassische Biergarten mit Schlandisten, Girlanden und Trikots Foto: Peter Kneffel/dpa

S treit war’s nicht, aber eine gewisse Uneinigkeit war im Freundeskreis festzustellen: Wo gucken wir das Halbfinale? Gemeint ist das erste, das von Spanien und Frankreich. Erstmal was Essen gehen, also: radeln, denn dann ist man flexibler. Schon die Essensauswahl war divers. In der Markthalle, in der wir uns trafen, ging jeder und jede zum Stand mit dem präferierten Essen: die meisten Griechisch, einer Französisch, und ich habe mir eine Minipizza gegönnt, also italienisch.

Aber eine Pizza ist ja noch kein Fußballspiel, und der erste Ort, auf den sich die radelnde Runde einigte, war ein Biergarten am Tempelhofer Feld. Der erste hatte zwar Getränke, aber keinen Fernseher. Der zweite jedoch bot alles: kulinarisches Angebot, großer Bildschirm, ausreichend Toiletten, freie Plätze, zu denen sogar ein paar vor den Bildschirm gestellte Sofas gehörten.

Wir nahmen teils auf Stühlen, teils auf der Couch Platz und vor allem: recht nah vor dem Bildschirm. Wer sich vor uns hinpflanzen wollte, musste dies auf dem Boden tun. Und es ging noch perfekter (sofern es dieses Wort überhaupt geben darf): Da waren nämlich lauter angenehme Menschen versammelt, dem Augenschein niemand in irgendwelchen Nationaltrikots, auch nicht die von Check24. Und Fahnen, mit denen Leute bei solchen Events in der Regel ja eh nur Unfug machen (vor meinem Gesicht schwenken etwa, wo ich doch gerade gerne die Zeitlupe sehen möchte), habe ich auch nirgends gesehen.

Aus der Zeit gefallen

Ein Biergarten, wie in eine bessere Zeit hinein- und aus der jetzigen Zeit herausgefallen. (Ich erinnere mich sehr ungern an Kreuzberger öffentliche Fernsehnächte, es war während des viel zu sehr gerühmten Sommermärchens 2006, bei denen junge Menschen nicht nur, was schlimm genug ist, aufstanden, um ihre Hymne in Richtung Leinwand zu schmettern, sondern sich auch noch lautstark beschwerten, dass sie die einzigen waren, die in dieser, dank der eng an den Holztisch herangezogenen Sitzbank, halbgeknickten Stellung standen, sich also für ihre Nation krumm machten.)

Zurück ins Jahr 2024. Ich saß also auf einem Stuhl, hatte genügend Beinfreiheit, und tatsächlich saßen um mich herum alle. Niemand stand. Niemand sprang bei heiklen Szenen auf, niemand beschimpfte Spieler oder Schiedsrichter, und alle genossen das Spiel, das ja zumindest in der ersten Halbzeit tatsächlich hochklassig war.

Mag sein, dass viele Leute glauben, zu irgendjemand halten müssen. Dass sie kein Vergnügen haben, wenn sie keine Häme ausschütten dürfen. Dass ihr Lustgewinn nur dann gegeben ist, wenn sie zum siegenden, ja, dominierenden „Wir“ gehören – alles möglich. Aber mich freut es sehr, dass tatsächlich auf diesem früheren Flugplatzgelände, das irgendwann sogar einmal „Tempelhofer Freiheit“ geheißen hat, noch ein Plätzchen für einen wie mich da war, der doch einfach nur Fußball gucken will. Und vorher vielleicht ’ne Pizza isst.

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Martin Krauss
Jahrgang 1964, freier Mitarbeiter des taz-Sports seit 1989
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10 Kommentare

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  • Schade, dass Berlin so an der Peripherie Deutschlands liegt. Ein zivilisierter Biergarten mit Platz klingt schon verführerisch.

  • Erst finde ich die in der Unterzeile versprochenen Girlanden im Foto nicht ...



    und dann lese ich einen überraschend schönen Kommentar.

  • Deutschland raus, Türkei raus. Damit zähle ich mich zu den Gewinnern dieser EM. No Schlaaand, no Autokorsos wenn ich schlafen will. Ja. Diese EM tut.richtig gut 😚

    • @Jungle Warrior:

      Schlafen ist eine Sache der Lebensumstände und der Einstellung.



      Muss man nicht über sein Leben grübeln, dann hat man auch die Chance zu schlafen, selbst wenn mal alle paar Wochen irgendjemand irgendwo Krach macht.



      Den Schlaf rauben mir nicht feiernde Menschen sondern jene, die anderen ihr Leben und ihre Lebensgrundlage nehmen.

      • @snowgoose:

        Beides: Das Autohupen ist doppelt nervend, weil laut _und umweltschädlich auch noch. Wer macht so etwas?

      • @snowgoose:

        Dann ist an ihrem Schlafzimmerfenster noch kein dreistündiger Autokorso mit gegröle, Feuerwerk und Trommeln bis halb ein Uhr Nachts vorbeigefahren sie glücklicher.....und dann wüssten sie auch, dass Schlafen leider nicht nur Einstellungssache ist

        • @PartyChampignons:

          Hier werden Geburtstage bis halb sechs Uhr morgens gefeiert, die man 8 km weit - KEINE Übertreibung!!! - hört.



          Beim sechsten!!! Polizeibesuch war beim letzten Mal dann Schluss, um halb neun fings dann beim Aufräumen wieder an.

          Lärmbelästigung ist keine nationale Frage, unterschiedlich sind nur manchmal die Mittel.

        • @PartyChampignons:

          „…. es war während des viel zu sehr gerühmten Sommermärchens 2006, bei denen junge Menschen nicht nur, was schlimm genug ist, aufstanden, um ihre Hymne in Richtung Leinwand zu schmettern ….“



          Oh welch trauriger Mensch Sie sind, gramgebeugt, immer das Schlimmste befürchtend, weil manche Fußballanhänger die Hymne singen.



          Das gilt natürlich nur für die Deutschen.



          Deutsche Kommentatoren entschuldigen sich ja auch ständig für die deutsche Brille (bei Wettkämpfen), derweil schreien sich die Sprecher in anderen Ländern die Seele aus dem Leib vor Begeisterung.



          Am besten melden sich alle deutschen Sportler ab oder wandern ins Ausland.

        • @PartyChampignons:

          Es ist nicht jede Nacht Autokorso ( und halb eins ist noch nicht mal die ganze Nacht).



          Fragen Sie mal Menschen in der Einflugschneise eines Flughafens, Dauerlärm den ganzen Tag über. Da helfen ein paar Nachtstunden Flugpause auch nichts ( und die wollte die UEFA auch noch canceln).



          Flüge hoch umweltschädlich, halten ein Paar Hupen nicht mit!



          Und fragen Sie mal Menschen in der Ukraine, fast jede Nacht Bombenalarm, weder ein sicheres Bett noch ….

          • @snowgoose:

            Also mit anderen Worten: meine Probleme sind unwichtig und unbedeutend weil es gibt ja Krieg in der Ukraine und überhaupt viele Menschen denen es schlimmer geht. Ja gut, mit solch abgehobenen, von oben herab sprechenden Kommentaren holt man aber niemanden ab und noch weniger mit pauschalen Vorurteilen von wegen ich wäre traurig, gramgebeugt, immer das Schlimmste befürchtend, ist ja nett, dass sie meinen das aus einem Satz ableiten zu können aber damit lehnen sie sich etwas zu weit aus dem Fenster.

            Interessiert mich übrigens auch herzlich wenig wie Kommentatoren in anderen Ländern rumschreien, ich mag meine Ruhe und Fußball generell geht mir ziemlich am A... vorbei.