Gleichwertigkeitsbericht der Regierung: Nehmt die Ost-West-Brille ab!

Der Gleichwertigkeitsbericht zeigt: Die regionalen Unterschiede in Deutschland nehmen ab. Doch die Wahrnehmung ist verzerrt und voller Vorurteile.

Sonnenbrillen hängen an einem Ständer, in den Gläsernspiegelt sich eine Fussgängerzone im Sonnenschein

Ob Ost oder West – es gibt auch im Westen schlechte und im Osten gute Lebensbedingungen Foto: Wolfgang Maria Weber/imago

Die Bundesregierung hat einen Bericht vorgestellt, der die Lebensverhältnisse in Deutschland untersucht. Und man sollte ergänzen: endlich! Dass sie bisher diese Daten nicht hatte, um Landkreise systematisch zu vergleichen, dass sie nicht einmal wusste, wie sich ihre Fördermittel verteilen, ist absurd.

Nun kann jeder Bürger nachlesen, wie die Versorgung mit Kin­der*­ärz­tin­nen in seinem Landkreis ist, wie die Feinstaubbelastung oder die Entwicklung der Gewerbesteuer. Kurz – wie lebenswert es in seiner Region ist.

Zusammenfassend gibt es endlich mal gute Nachrichten: Die Lebensverhältnisse gleichen sich an. Zwar gibt es große Unterschiede, wenn man etwa die Wirtschaftskraft von Wolfsburg mit dem Erzgebirge vergleicht. Große Unterschiede zwischen Ost und West gibt es auch beim Gehaltsniveau, der Kinderbetreuung, dem Gender-Pay-Gap. Aber sie werden geringer, die Wirtschaft im Osten wächst schneller. Und es fließen deutlich mehr Fördermittel nach Osten – zu Recht.

Eine Brille ohne Durchblick

Es wäre gut, wenn sich diese Erkenntnisse auf die öffentliche Debatte auswirken. Denn es ist einfach, vom abgehängten Osten zu sprechen – doch es verstellt den Blick. Denn „den Osten“ gibt es nicht. Und der Bericht zeigt, dass das Leben im Speckgürtel von Berlin besser vergleichbar ist mit ähnlichen Landkreisen im Westen als mit der Prignitz. Und viele Probleme gibt es in Ost und West zugleich, etwa Regio­nen, die überaltern. Statt also auf das Trennende zu schauen, wäre es produktiv, Gemeinsamkeiten zu entdecken.

In Ost und West sind etwa zwei Drittel zufrieden. Gleichzeitig glaubt aber die Mehrheit der Ostdeutschen, dass es sich in anderen Regionen besser leben ließe.

Die Ost-West-Brille hat Folgen: Für den Bericht wurden 30.000 Menschen in allen Landkreisen danach gefragt, wie zufrieden sie mit ihrem Leben sind (das gab es noch nie!). Das gute Ergebnis: Trotz aller Probleme sind zwei Drittel der Deutschen zufrieden, auch in Ostdeutschland. Gleichzeitig glaubt aber die Mehrheit der Ostdeutschen, dass es sich in anderen Regionen besser leben ließe.

Als in der vergangenen Woche die Meldung kursierte, dass die Bahn einige Fernverkehrsverbindungen streichen wolle, wurde in vielen Medien, auch in der taz, vor allem der mögliche Wegfall von Zugverbindungen in Ostdeutschland kritisiert. Die Aufregung war groß – der Osten wird mal wieder abgehängt! Der Bericht der Bundesregierung zeigt nun: In ganz Deutschland ist die Hälfte der Bevölkerung unzufrieden mit der Versorgung mit Nahverkehr und Radwegen.

In anderen Bereichen fallen subjektive Wahrnehmung und objektive Lage auseinander. In den Landkreisen an der Grenze zu Polen ist etwa das Gefühl der Sicherheit gering, obwohl die Kriminalitätsstatistik zeigt, dass es in Großstädten deutlich gefährlicher ist.

Vor dem Verfassen des nächsten Tweets oder Leitartikels über den abgehängten Osten oder das Erstarken der AfD lohnt es sich also, die Brille zu wechseln, und nicht nur mit gefühlten Wahrheiten zu argumentieren.

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Kersten Augustin leitet das innenpolitische Ressort der taz. Geboren 1988 in Hamburg. Er studierte in Berlin, Jerusalem und Ramallah und wurde an der Deutschen Journalistenschule (DJS) in München ausgebildet. 2015 wurde er Redakteur der taz.am wochenende. 2022 wurde er stellvertretender Ressortleiter der neu gegründeten wochentaz und leitete das Politikteam der Wochenzeitung. In der wochentaz schreibt er die Kolumne „Materie“. Seine Recherchen wurden mit dem Otto-Brenner-Preis, dem Langem Atem und dem Wächterpreis der Tagespresse ausgezeichnet.

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