Changeja, aber Hope?

Am 4. Juli wählt Großbritannien – und alles deutet auf einen großen Sieg der Labour-Partei hin. Keir Starmer wird wohl der neue Premierminister. Nur was will er eigentlich?

Labour-Chef Keir Starmer im Gespräch mit Mit­ar­bei­te­r:in­nen eines Supermarkts in Wiltshire im Südwesten Englands Foto: Hannah McKay/reuters

Von Dominic Johnson
und Daniel Zylberstztajn-Lewandowski

In dem aktuellen Brief an seine Wähler sieht man Keir Starmer in Schwarz-Weiß. Im weißen Hemd mit Krawatte blickt der mutmaßlich künftige britische Premiermininister mit ernster Miene durch seine Brille in die Weite. Daneben steht in Weiß auf Rot „Meine ersten Schritte“, so als werde ein Baby präsentiert.

Wirtschaftliche Stabilität schaffen; Wartezeiten im Gesundheitswesen verringern; ein neues Grenzsicherungskommando aufstellen; eine staatliche Energiefirma gründen; ­gegen asoziales Verhalten kämpfen und 6.500 neue Lehrer einstellen – so lauten Starmers erste Schritte. In kleineren Buchstaben wird ausgeführt, wie das gehen soll: harte Ausgabenregeln, 40.000 Arzttermine mehr pro Woche, Antiterrormaßnahmen gegen Schleuser, eine Sondersteuer auf Öl- und Gasfirmen, mehr Nachbarschaftspolizei und mehr Jugendzentren, Einführung der Mehrwertsteuer auf Privatschulgebühren.

Mehr nicht? Kurz vor den britischen Parlamentswahlen am 4. Juli liegt Labour in den Umfragen schier uneinholbar vorn, mit zumeist über 40 Prozent der Stimmen, während die regierenden Konservativen nur mit Mühe auf mehr als 20 Prozent kommen. Dank des Mehrheitswahlrechts, das ausschließlich Direktmandate im Unterhaus vorsieht, dürfte Labour damit eine absolute Mehrheit der Sitze einfahren.

Seit dem Rücktritt von Tory-Premier Boris Johnson im Sommer 2022 liegt Labour in den Umfragen konstant vorn, seit dem Debakel von Johnsons Nachfolgerin Liz Truss mit sehr hohem Vorsprung. Der aktuelle Premierminister Rishi Sunak, seit Oktober 2022 im Amt, hat keine Trendwende herbeiführen können. Die Umfragewerte von Labour bröckeln seit einigen Monaten zwar leicht, die der Konservativen allerdings auch.

Seit er im April 2020 den glücklosen Jeremy Corbyn als Labour-Chef ablöste, bereitet sich Keir Starmer auf diese Wahlen vor. Corbyn hatte Labour mit einem klar linken Programm bei den Wahlen Ende 2019 das schlechteste Ergebnis seit 1935 beschert, obwohl er eine bessere Welt versprach. Nun steht Keir Starmer kurz vor dem größten Labour-Wahlsieg der Parteigeschichte – und verspricht nur Dinge, die auch in konservativen Programmen stehen könnten. Verlässt Keir Starmer auf der Zielgeraden der Mut? Oder sagt er nur nicht laut, was er eigentlich will?

Noch 2020 hatte Starmer, als er sich um die Parteiführung bewarb, ausdrücklich Corbyns Programm unterstützt. Er versprach die Verstaatlichung von Wasser- und Stromversorgung sowie der Bahn, die Abschaffung von Studiengebühren, die Wiedereinführung der Freizügigkeit mit EU-Staaten und die Abschaffung des ungewählten Oberhauses. 2021 kündigte Labour sogar an, nach einem Wahlsieg wolle man jedes Jahr 28 Milliarden Pfund jedes Jahr in die ökologische Transformation stecken, ein „Green New Deal“.

Nichts davon hat überlebt. Labours Wahlprogramm 2024 ist 141 Seiten lang, aber im Wesentlichen vollkommen abgespeckt. Waren die linken Vorhaben von früher also nur ein Fake? Das Kalkül eines machtversessenen Politikers, um an die Spitze seiner Partei zu gelangen? Oder ist das Wahlprogramm von heute reines Kalkül, um an die Macht zu kommen? Ist Starmer ein verkappter Rechter oder ein verkappter Linker? Oder gar nichts von beidem? Kurz vor der Wahl weiß Großbritannien darauf keine eindeutige Antwort.

Starmer, 61 Jahre alt, erinnert an eine ältere Generation von Engländern, zugeknöpft und reserviert, pflichtbewusst und mit einem äußeren Auftreten, das keine Rückschlüsse auf sein Innenleben oder seine Gedanken zulässt. Privat sei er viel witziger als in der Öffentlichkeit, sagen Mitarbeiter von ihm aus seiner Zeit als Generalstaatsanwalt gegenüber der taz. Inwiefern genau, sagen­ sie aber nicht.

In Starmers Londoner Wohn­gegend weiß man, dass er bis heute jeden Sonntag in einem Amateurverein Fußball spielt. Er ist Fan des FC Arsenal, und manchmal sieht man ihn in einem der Badeseen des Londoner Stadtparks Hampstead Heath schwimmen, einen Katzensprung von seinem Wohnviertel Kentish Town. Gegenüber der breiteren Öffentlichkeit hält er sein Privatleben aber so verschlossen, dass nicht einmal die Vornamen seiner beiden Kinder bekannt sind. Sie wachsen liberal-jüdisch nach dem Glauben ihrer Mutter auf, Victoria, ebenfalls Juristin. Die Hälfte der Familie von Starmers Frau lebt in Israel.

Öffentlich redet er aber mehr von seinem Vater, einem Werkzeugmacher, und seiner Mutter, einer Krankenschwester, die wegen einer seltenen Krankheit zunehmend auf den Rollstuhl angewiesen war. Seine Familie habe ein entbehrungsreiches Leben geführt, betont Starmer oft und grenzt sich bewusst von der reichen Elite ab.

Sein Beharren auf dem wohl umstrittensten Labour-Vorhaben, Privatschulgebühren mit Mehrwertsteuer zu belegen – das würde allerdings nicht nur Eliteschulen treffen, sondern auch Montessori- und Waldorfschulen –, zeugt davon ebenso wie die schnelle Antwort, die er im Wahlkampf in einer TV-Runde gegeben hat: auf die Frage, ob er notfalls ein krankes Familienmitglied privat behandeln lassen würde, falls es im staatlichen Gesundheitsdienst NHS zu lange dauern würde. „Nein“, antwortete er wie aus der Pistole geschossen.

Starmers linke Wurzeln sitzen tief. Während der Thatcher-Ära war er, nach seinem Studium an der Eliteuniversität Oxford, kurzzeitig einer der Herausgeber der trotzkistischen Monatszeitschrift Socialist Alternative, Organ jener linken Strömungen, die eine Öffnung Labours zu den damals „neuen sozialen Bewegungen“ jenseits der etablierten linken Parteien und Gewerkschaften anstrebten – ökologisch, feministisch, menschenrechtsorientiert.

Das war auch Starmers Fokus, als er sich 1987 für eine Jurakarriere entschied – erst bei der führenden britischen Bürgerrechtsorganisation „Liberty“, dann als Leiter seiner eigenen Kanzlei, die etwa in der Karibik und in Nordirland tätig war. Und als scharfer Kritiker von Tony Blairs Irakkrieg.

2008, da war Blair schon nicht mehr im Amt, stieg Starmer zum Generalstaatsanwalt auf, für fünf Jahre. Er führte die ersten Anklagen gegen al-Qaida in Großbritannien und sorgte dafür, dass Opfer sexueller Gewalt in Prozessen mehr Gehör fanden. Er brachte Politiker vor Gericht, die sich fiktive Kosten vom Staat erstatten ließen – einer der größten Skandale kurz vor Ende der Labour-Regierungszeit 2010. Als Labour damals die Macht an David Cameron verlor, erschien die Partei ähnlich verbraucht und perspektivlos wie die Konservativen heute.

Den Wiederaufbau Labours erlebte Starmer von innen. 2014 wechselte der Starjurist in die Politik und zog bei den Wahlen 2015 als Labour-Abgeordneter für den Londoner Innenstadtwahlkreis Holborn & St Pancras ins Parlament ein. Schon damals sprachen Insider von Starmer als kommendem Labour-Geheimtipp.

Vom neuen Parteiführer Jeremy Corbyn ins Schattenkabinett berufen, entwickelte er sich zum führenden Brexit-Gegner, der ein zweites Referendum forderte – gegen den Willen Corbyns. An den britischen Brexit-Wirren der Jahre 2017 bis 2019, die mit dem Triumph Boris Johnsons und dem Abgang Corbyns endeten, hatte Starmer also wesentlichen Anteil. Heute schließt Starmer in seinem Wahlprogramm einen Wiederbeitritt zur EU ausdrücklich aus – eine weitere seiner vielen Kehrtwenden.

Heute ist Starmer als Labour-Chef unangefochten, denn er hat die Wiederauferstehung einer Partei ermöglicht, die nach dem desaströsen Wahlergebnis von 2019 erneut am Boden lag und sich auf mindestens zehn weitere Jahre Opposition eingerichtet hatte. Effektiv und beharrlich hat Starmer hinter den Kulissen die Arbeitsweisen der Partei verändert, den von Corbyn tolerierten Antisemitismus bei Labour bekämpft und damit ausgetretene jüdische Mitglieder zurückgeholt, während Corbyn selbst ausgeschlossen wurde.

Ein Publikumsliebling war Starmer aber nie. Seine Sympathiewerte sind konstant niedrig, seine Partei ist beliebter als er selbst – ein Problem, das er mit den konservativen Kontrahenten der vergangenen Jahre teilt, von Boris Johnson über Liz Truss bis Rishi Sunak.

Vielen wählen Labour trotz Starmer

Man wählt Labour trotz Starmer, nicht wegen ihm. Öffentlich wird der Parteichef als hölzern wahrgenommen, als Besserwisser, der seine Gesprächspartner mehr belehre als überzeuge. Boris Johnson nannte ihn beim regelmäßigen Schlagabtausch im Parlament gern „Captain Hindsight“, ein Schiffskapitän, der immer hinterher alles besser zu wissen glaubt. Die Neuauflage der berühmten politischen Satire-Puppenshow „Spitting Image“ machte aus Keir Starmer „Foxman“, mit der speziellen Gabe, seine Feinde mit Jargon einzuschläfern.

Er erinnert an eine ältere Generation Engländer, zugeknöpft und pflichtbewusst

Starmer besitzt weder das Charisma eines Tony Blair noch die Redekunst eines Boris Johnson noch die bissige Schärfe einer Margaret Thatcher. Er redet übervorsichtig, solide, aber nicht mitreißend. Als ihm beim letzten Labour-Parteitag 2023 ein unzufriedener Aktivist während seiner Rede Glitzerklebstoff über den Kopf schüttete, redete er einfach weiter. Als ihn jetzt im Wahlkampf Premierminister Sunak in einer TV-Debatte bezichtigte, insgeheim Steuererhöhungen von 2.000 Pfund pro Haushalt zu planen, benötigte Starmer fast die ganze restliche Sendung, bis er überhaupt reagierte.

Sunaks Zahlen sind nicht belegt, aber mit seinem Vorwurf traf er einen Nerv: die Annahme, dass Starmer nicht ehrlich sagt, was er vorhat.

Starmer versucht, seine Unscheinbarkeit zur Marke zu machen. Er umgibt sich nicht mit Glamour und Promi-Figuren. Manche seiner engsten Vertrauten kommen aus katholisch-irischen Einwanderfamilien, ein Erbe seiner juristischen Arbeit in Nordirland – etwa sein Wahlkampfleiter Pat McFadden oder seine Stabschefin Sue Gray.

Gray, die langjährige hochrangige Leiterin des Beamtenapparats im Amtssitz des Premierministers in 10 Downing Street, kennt sämtliche Skandale der vergangenen Jahrzehnte von innen. Vor zwei Jahren leitete sie die interne Untersuchung gegen Boris Johnson und dessen „Partygate“-Skandal über mögliche Missachtungen der Coronaregeln in 10 Downing Street, die eine entscheidende Rolle bei seinem Sturz spielte. Dann nahm sie Starmers Jobangebot an. Die entnervten Dauerbeamten im Staatsapparat setzen nach dem Chaos der Tories offensichtlich auf Labour.

Auffällig ist, wie offensiv die Labour-Führung im Wahlkampf den Rückzug von Wunschpositionen als Strategie vertritt. „Power not Activism“ nennt das Schattenaußenminister David Lammy, der prominenteste Schwarze in der oberen Labour-Riege: Machtausüben statt Agitieren – das Gegenteil der Corbyn-Linie.

Ähnliches empfahl Starmer der britischen Linken bereits als Publizist in den 1980er Jahren: Erst ­vorsichtig an die Macht kommen, dann kann man Dinge verändern, vorher nicht. Man dürfe die Wäh­le­r:in­nen nicht erschrecken, heißt das heute. So müsse man zeigen, dass eine Labour-Regierung verantwortlich mit Staatsgeldern um­gehen könne.

„Securonomics“ lautet das Zauberwort der voraussichtlichen zukünftigen Finanzministerin Rachel ­Reeves. Sie arbeitete vor ihrem Einstieg in die Politik bei der britischen Zentralbank: Mit strikten Ausgabenkontrollen und mehr Kompetenzen für die unabhängigen Haushaltsprüfer soll Großbritannien nach dem Willen Labours das höchste Wachstum aller G7-Staaten erzielen. „Growth“, Wachstum, nennt Labour die Lösung aller Probleme – Labour, nicht die Tories, präsentieren sich jetzt als die Hüter des Wirtschaftswachstums und der gesunden Staatsfinanzen.

Aber kann man Wachstum planen? Labour stellt Pläne für alles bereit, aber die letzten Jahre waren voller Unwägbarkeiten: Corona­pandemie, Brexit-Folgen, Ukraine­krieg. Das übersteht kein Plan. Hauptmantra Labours im Wahlkampf ist daher jetzt „Change“ – Wandel. Das Wort steht auf jeder Parteiwerbung, die Partei verkauft es auf Aufklebern, T-Shirts, Bechern und Babystramplern.

„Change“ jetzt mit Union Jack. Die Labour-Kampagne ist von Obama inspiriert Foto: Toby Melville/reuters

„Change“ soll heißen: Wir lösen 14 Jahre inkompetenter konservativer Regierung durch eine kompetente Labour-Regierung ab. Doch das gibt keine Antwort auf die Frage, wie sehr Starmers veränderte Labour-Partei sich von den Konservativen unterscheidet. Rachel Reeves spricht von einer Partei für Business und arbeitende Menschen, mit einer Industriestrategie und beschleunigten Planungs- und Entscheidungsprozessen für wichtige Projekte.

Starmer sagt, er wolle bei der Planung von Wohngebieten und Infrastruktur wie Windrädern jeglichen lokalen Widerstand beiseiteschieben. Das trauen sich nicht einmal die Konservativen. Von den Ambitionen des „Green New Deal“ ist derweil nur ein Skelett geblieben: Von 28 Milliarden Pfund Klimainvestitionen pro Jahr ist keine Rede mehr, nur noch von der Gründung des staatlichen Energieversorgers „Great British Energy“, der aber auch bloß ein Verteilungsnetzwerk aufbauen soll.

Viel ist dafür von der Gesundung der maroden Sozialsysteme in Gesundheit und Bildung die Rede, aber die genauen Vorhaben sind eher bescheiden. Und zum Teil wirken sie seltsam übergenau. So verspricht Labour zum Beispiel 2 Millionen mehr medizinische Behandlungen und 700.000 Zahnarzttermine im ersten Jahr ihrer Regierung. Wo jedoch das Personal dafür herkommen soll, bleibt offen. Man setze auf mehr Überstunden und Wochenendarbeit, sagt Starmer – viele NHS-Mitarbeiter arbeiten aber längst am Anschlag.

Die Vorhaben für das Bildungssystem reichen ebenso wenig aus, um die Lücken zu füllen. Einer der am meisten kritisierten Punkte ist Labours Weigerung, die konservative Deckelung des Kindergeldes auf zwei Kinder, unabhängig von der konkreten Anzahl der Kinder, wieder rückgängig zu machen, obwohl das nach der Meinung von Sozialverbänden ein wahrer Beitrag gegen Kinder­armut wäre.

Es fehlt das Streben nach einer Utopie

Wie schwierig die Unterscheidung zwischen Konservativen und Labour heute ist, illustriert das Thema Migration. Das umstrittene Ruanda-Programm der konservativen Regierung zur sofortigen Abschiebung von Bootsflüchtlingen will Labour sofort stoppen; stattdessen soll eine neue Grenzschutzeinheit gezielt gegen Menschenschmuggler vorgehen und diese wie Terroristen behandeln.

Labour, nicht die Tories, präsentieren sich jetzt als Hüter gesunder Staatsfinanzen

Insgesamt will Labour die seit einigen Jahren rekordhohe Zuwanderung nach Großbritannien drosseln. In der Praxis ist all das schon be­stehende Politik.

Für die meisten britischen Wäh­le­r:in­nen ist Labour jetzt einfach eine andere Partei als die Konservativen, „Change“ eben. Aber Aufbruchsstimmung sieht anders aus, allenfalls ist Erleichterung über das bevorstehende Ende der Dominanz der Tories zu spüren – und die Hoffnung, dass ein paar frische Hände vielleicht einiges besser machen könnten.

Was bei Labour 2024 vor allem fehlt, ist die Möglichkeit des Träumens, die Vorstellung einer besseren Gesellschaft. Das Streben nach einer Utopie und die Gewissheit, auf der richtigen Seite der Gesellschaft und der Geschichte zu stehen, waren immer die wichtigste Motivation für Labour-Aktivisten – auch in scheinbar hoffnungslosen Zeiten. Heute scheint es der Parteispitze wichtiger zu sein, möglichst wenig zu versprechen.

Barack Obama begeisterte die USA einst mit „Hope and Change“ – Hoffnung und Wandel. Keir Starmer will in Großbritannien „Change“ jetzt ohne „Hope“ schaffen.

Nur im Verborgenen überwintert noch die Hoffnung, dass man später vielleicht doch mehr machen könne, ohne es jetzt schon zu sagen. Aber das ist eine Hoffnung, die bei Labour-Regierungen bisher immer enttäuscht worden ist.