Gesundheitsversorgung in armen Gebieten: Muss man sich leisten wollen

Vorbild Hamburg: Mit 1.000 Gesundheitskiosken wollte Karl Lauterbach 2022 noch die Gesundheitsversorgung stärken. Daraus ist nichts geworden.

Karl Lauterbach steht neben Mitarbeiter:innen des Gesundheitskiosks

Foto aus glücklicheren Tagen: Von Lauterbachs Ankündigung beim Besuch des Billstedter Gesundheits­kiosks ist nichts mehr übrig Foto: Marcus Brandt/dpa

HAMBURG taz | Monatelanges Warten auf Termine, gestresste Ärz­t*in­nen und Pflegekräfte. Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) wollte die Gesundheitsversorgung verbessern. Helfen sollten dabei Gesundheitskioske, auf Drängen der FDP hat Lauterbach sie jedoch gänzlich aus dem Gesundheitsversorgungsstärkungsgesetz (GVSG) gestrichen. Zu teuer und zu ineffizient seien sie. In Hamburg wollen die fünf Kioske trotzdem weitermachen. Denn: Die Versorgungslage hat sich verbessert, Pa­ti­en­t*in­nen waren zufriedener und auch finanziell stellen sie nicht unbedingt zusätzliche Belastungen dar.

2017 eröffnete der Gesundheitskiosk in Hamburg-Bill­stedt als deutschlandweit erstes Pilotprojekt. Ziel ist ein niedrigschwelliger Zugang zu medizinischer Versorgung und eine verbesserte Prävention, besonders für vulnerable Gruppen in sozial benachteiligten Regionen. Die Kioske bewegen sich an einer Schnittstelle zwischen medizinischer Versorgung und sozialer Arbeit, arbeiten mit lokalen, sozialen Einrichtungen zusammen.

Soziale Ungleichheit spiegelt sich auch in einer gesundheitlichen Ungleichheit wider. Härtere Arbeits- und Lebensbedingungen erhöhen das Risiko von Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Diabetes oder psychischen Erkrankungen wie Depressionen. Die Lebenserwartung von Männern der niedrigsten Einkommensgruppe ist in Deutschland 8,6 Jahre geringer als die von Männern der höchsten Einkommensgruppe. Bei Frauen beträgt die Differenz 4,4 Jahre. Wer arm ist, stirbt auch früher.

Im Gesundheitskiosk Bill­stedt können sich Pa­ti­en­t*in­nen kostenlos und ohne Termin in sieben Sprachen beraten lassen. Medizinisch ausgebildete Pflegekräfte vermitteln in ausführlichen Gesprächen an Fachärzt*innen, es gibt Suchtberatungen und Sprechstunden für die seelische Gesundheit. Auch grundlegende medizinische Behandlungen wie Blutdruckmessen oder Wundversorgungen werden durchgeführt. In Hamburg gibt es mittlerweile fünf Kioske, in den vergangenen Jahren eröffneten weitere in Aachen, Essen und in ländlichen Regionen Thüringens.

Gestrichen aus dem Gesetzentwurf

Auch im Koalitionsvertrag der Bundesregierung ist die Errichtung niedrigschwelliger Gesundheitsangebote, etwa durch Gesundheitskioske, festgeschrieben. 2022 besuchte Lauterbach den Billstedter Kiosk und kündigte an, deutschlandweit 1.000 Kioske in sozial benachteiligten Regionen einrichten zu wollen. Die Kioske waren lange Bestandteil des Entwurfs des GVSG durch das Gesundheitsministerium.

Der Entwurf sah für die Errichtung der Gesundheits­kioske ein Initiativrecht für die Kommunen vor, die sich auch an 20 Prozent der Kosten beteiligen sollten. 74,5 Prozent sollten die gesetzlichen Krankenversicherungen zahlen, 5,5 Prozent die privaten Krankenversicherungen. Auch Menschen ohne Krankenversicherung sollten die Gesundheitskioske aufsuchen können.

Die GKV, der Spitzenverband der gesetzlichen Krankenkassen, begrüßt zwar die generelle Zielsetzung, die gesundheitliche Chancengleichheit zu stärken, lehnt die Gesundheitskioske in dieser Form jedoch aufgrund der Finanzierung ab. „Die bisher geplante Ausgestaltung der Gesundheitskioske wäre im Kern kommunale Sozialarbeit und müsste deshalb auch primär von den Kommunen getragen werden“, sagt Sprecher Florian Lanz.

Kritik kam auch von der FDP. „Jeder der ehemals angedachten 1.000 Gesundheitskioske würde mindestens 400.000 Euro pro Jahr kosten“, sagt Andrew Ullmann, gesundheitspolitischer Sprecher der FDP-Bundestagsfraktion. „Das wären jährlich 400 Millionen Euro für ein System, das schon jetzt vor weiteren Kostenexplosionen durch den demographischen Wandel steht.“ Zudem würden so Parallelstrukturen aufgebaut und Personal aus anderen notwendigen Bereichen der Gesundheitsversorgung abgezogen.

FDP hat sich gesträubt

Lauterbach korrigierte die Anzahl der geplanten Gesundheitskioske zwischenzeitlich auf 220 nach unten, wohl um die FDP noch von dem Vorhaben zu überzeugen. Im Kabinettsentwurf, den die Bundesregierung im Mai beschlossen hat, fehlen sie jedoch komplett – genau wie etwa auch die Förderung von Primärversorgungszentren und Gesundheitsregionen sowie die Finanzierung neuer Medizinstudienplätze. Auch die zuvor angekündigte Streichung homöopathischer Kassenleistungen fehlt. Lediglich Finanzierungszusagen für die hausärztliche Versorgung sind erhalten geblieben.

Der Kiosk in Billstedt entstand auf Initiative von Ärzt*innen, die im Stadtteil ein Versorgungsdefizit sowie eine höhere chronische Krankheitslast und Armut festgestellt hatten. 95 niedergelassene Ärz­t*in­nen gibt es in dem Stadtteil mit 72.000 Einwohner*innen. Zum Vergleich: Im wohlhabenden Eimsbüttel kommen auf 58.000 Ein­woh­ne­r*in­nen 332 Ärzt*innen. Die medizinische Versorgung ist in sozioökonomisch schwächeren Stadtteilen und Regionen besonders eklatant.

Finanziert wurde der Kiosk die ersten drei Jahre durch einen Innovationsfonds des Bundes. Der verantwortliche Innovationsausschuss hat zum Ende der Förderphase 2020 einen positiven Beschluss gefasst und empfohlen, das Modell in die Regelversorgung zu übertragen. Im Anschluss an die Förderphase waren fünf Versicherer an der Finanzierung beteiligt. Drei davon zogen sich jedoch zurück, nachdem Lauterbach angekündigt hatte, 1.000 Kioske aufbauen zu wollen. Aktuell sind nur noch die AOK Rheinland/Hamburg und die Mobil-Krankenkasse beteiligt.

Die dreijährige Testphase wurde auch von Wis­sen­schaft­le­r*in­nen der Universität Hamburg begleitet. In ihrer Evaluation kommen sie zu dem Ergebnis, dass die Anzahl ambulanter Arztbesuche gestiegen ist, bei gleichzeitigem Rückgang der Krankenhausaufenthalte. „Die Einrichtung des Gesundheitskiosks hat zu einem verbesserten Zugang beigetragen und wurde von den niedergelassenen Ärz­t*in­nen und (sozialen Stadtteil-)Einrichtungen in die Versorgung integriert“, heißt es in dem Bericht.

Unverständnis in Hamburg

Zudem habe sich die Zufriedenheit der Pa­ti­en­t*in­nen und der Ärz­t*in­nen mit der medizinischen Versorgung erhöht. In Bezug auf die Wirtschaftlichkeit konnten innerhalb des Beobachtungszeitraums keine belastbaren Aussagen getroffen werden, hierzu wäre eine längere Beobachtung nötig.

Alexander Fischer, Geschäftsführer der Trägergesellschaft der Hamburger Gesundheitskioske, kritisiert die Streichung aus dem Gesetz. „In den Gebieten, wo wir sind, sind die Haus­ärz­t*in­nen von oben bis unten dicht.“ Die Gesundheitskioske seien eine wichtige Ergänzung im Versorgungssystem, da viele der Pa­ti­en­t*in­nen von den Strukturen des Gesundheitswesen gar nicht erfasst werden.

Den Kritikpunkt der Parallelstrukturen versteht er daher nicht. Wo sowieso kaum eine Versorgungsstruktur bestünde, könne es auch keine Doppelstruktur geben. „30 Prozent der Menschen, die zu uns kommen und erkrankt sind, haben gar kei­ne*n Hausärzt*in“, sagt er.

So hätten die Gesundheitskioske eine präventive Wirkung. „Wenn diese Menschen im Gesundheitssystem aufschlagen, dann erst in der Notaufnahme, wenn es eigentlich schon zu spät ist“, sagt Fischer. In der täglichen Arbeit gehe es stark um Prävention, Verständnis der Diagnostik, Medikationsmanagement, Vor- und Nachbereitung von Arztbesuchen. Dinge, die von Ärz­t*in­nen häufig nicht erledigt werden können. „Bei vulnerablen Gruppen ist es ganz wichtig, dass man Zeit hat, sich um die Person zu kümmern. Die fehlt aber in den Hausarztpraxen“, sagt er.

Bundestag könnte noch für Änderung sorgen

Auch wenn die Gesundheitskioske kein Teil des Gesetzesentwurfs mehr sind, wird die Arbeit vorerst weitergehen. Die AOK Rheinland/Hamburg zieht eine positive Bilanz über die bisherige Arbeit, es seien seltener kritische Verläufe bei Erkrankungen aufgetreten, wodurch weniger stationäre Aufenthalte nötig gewesen sein. Daher möchte die Krankenkasse die sieben Gesundheitskioske, an denen sie insgesamt beteiligt ist, weiter finanzieren.

„Nach unserer Erfahrung braucht es in Deutschland nicht 1.000 Gesundheitskioske, sondern vielleicht 100 oder auch nur 50“, sagt Sprecher Heiko Schmitz. Sie sollten sich auf Regionen beschränken, in denen der größte Bedarf besteht. Eine ernsthafte finanzielle Belastung sind die Kioske laut Schmitz dann nicht. „Das Argument, der Aufbau und der Betrieb von Gesundheitskiosken seien zu teuer, trägt nicht“, sagt er.

Bei 100 Kiosken beliefen sich die jährlichen Ausgaben auf etwa 40 Millionen Euro. Laut Schmitz wären es höchstens 0,02 Prozent der gesamten Ausgaben der gesetzlichen Krankenversicherungen. „Die Gesundheitskioske kann man sich als gesetzliche Krankenkasse leisten, auch über einen längeren Zeitraum“, sagt er.

Schmitz kritisiert daher, dass die Kioske aus dem Gesetz gestrichen wurden und nicht alle Krankenkassen gesetzlich verpflichtet werden, sich an der Finanzierung zu beteiligen. „Das wirklich Ärgerliche an der Sache ist, dass nicht alle gesetzlich Versicherten von diesem Versorgungsmodell profitieren können“, sagt er. Die Stärke einer solchen Struktur würde erst dann richtig zum Ausdruck kommen, wenn auch alle Be­woh­ne­r*in­nen eines Stadtteils von den Gesundheitskiosken Gebrauch machen könnten.

Noch ist das GVSG keine beschlossene Sache, am Freitag wird es erstmals im Bundestag verhandelt. Dort könnten die Gesundheitskioske theoretisch wieder Teil des Gesetzes werden. „Wir sind überzeugt vom Wert der Gesundheits­kioske und erwarten, dass sie im parlamentarischen Verfahren wieder Teil des Gesetzes werden – das hofft Gesundheitsminister Karl Lauterbach gemäß seiner jüngsten Aussagen ja auch“, sagt Schmitz.

In der vergangenen Woche sprachen sich bereits die Länder im Gesundheitsausschuss des Bundes­rates für eine Wiederaufnahme der Gesundheitskioske ins GVSG aus. Die Bedingung ist, dass sich die Kommunen zu einem größerem Teil an der Finanzierung beteiligen.

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