Früchte, die stetig wachsen

Der Dichter und Aktivist Danilo Dolci galt als „Gandhi Italiens“. Mit gewaltfreien Aktionen kämpfte er gegen Armut, staatliche Repression und für soziale Gerechtigkeit – und riskierte dabei viel. Eine Würdigung zum 100. Geburtstag

Von Claudio La Camera

Soziologe, Dichter, sozialer Agitator, Vordenker einer alternativen Gesellschaft, der nach Antonio Gramsci am meisten verfolgte und vergessene italienische Intellektuelle der jüngeren Geschichte: Danilo Dolci wäre in diesen Tagen hundert Jahre alt geworden. Würde er leben, stünde er noch immer an vorderster Front und kämpfte für die Verteidigung der grundlegenden Menschenrechte: Wasser, Wohnung, Gesundheit, Bildung, Umweltschutz; Redefreiheit: das Recht, nein zu sagen zu sozialer Ungerechtigkeit; das Recht, friedlich zu rebellieren, wenn das Gesetz die Armen mit Füßen tritt, das Recht, die Wahrheit über die Übel der Welt zu verbreiten; das Recht, daran zu erinnern, dass Faschismus und Nazismus in Europa jederzeit wieder ihre hässliche Fratze zeigen können.

Danilo Dolci wurde am 28. Juni 1924 in Sersana geboren, einer Kleinstadt im äußersten Nordosten Italiens, die heute Sežana heißt und seit 1947 zu Slowenien gehört. Von Kindheit an fordert er sich und andere heraus, ein gefährliches Leben, ein Balancieren am Abgrund. Dolci liebte die Tat und war geprägt von seinen drei spirituellen Meistern, Jesus, Gandhi und Lenin.

Seine Mutter, Slowenin und tiefgläubige Katholikin, zeichnet den Weg für seine ersten Mission vor, in „Nomadelfia“, der Gemeinschaft von Don Zeno Saltini, die auf dem Gelände des ehemaligen nationalsozialistisch-faschistischen Konzentrationslagers Fossoli in der Poebene kriegsvertriebene Kinder aufnimmt. In Nomadelfia atmete man die Luft eines Katholizismus, der sich auf Solidarität gründete. Armut ist hier kein Mangel, sondern Voraussetzung für Menschlichkeit, ein fundamentaler Wert. Das Evangelium bildet den Kompass für das tägliche Handeln. Danilo Dolcis Religiosität wird sich aber eher der der lateinamerikanischen Missionare der Befreiungstheologie sich annähern: die Hinwendung zu den Ärmsten, zu einem Gott, der die Leidenden liebt; und dem entschiedenen Kampf gegen jede Erscheinungsform des Bösen, gegen Ausbeutung und soziale Ungerechtigkeit.

Als Mann der Tat suchte Dolci nach einer noch schwierigeren Mission und zog 1952 – während viele Einwohner des westsizilianischen Trappeto auf der Suche nach Arbeit massenhaft nach Düsseldorf und Solingen auswanderten – in dieses Geisterstädtchen. Dort schuf er seine neue Heimat, die „Casa Borgo di Dio“, eine Gemeinschaft, die nur dem Gesetz der Brüderlichkeit unterworfen war. Er nahm Waisenkinder, Kriminalitätsopfer und Familienangehörige von Häftlingen auf. Er setzte erfolgreich das Mittel des Hungerstreiks ein, um den Staat zu zwingen, etwas an den katastrophalen Verhältnissen zu verändern, in denen die Menschen zu leben gezwungen waren.

Dolci heiratete eine Witwe mit fünf Kindern, forderte die Institutionen heraus, um die Rolle der Bildung als Gegenmittel zu Gewalt und Mafia einzufordern. Die Praktiken zur Bekämpfung der Bildungsarmut, die wir heute in den Armenvierteln der italienischen Städte finden, beruhen auch auf den Erfahrungen von Danilo Dolci.

Das Haus „Borgo di Dio“ wurde von Intellektuellen und Gelehrten aus der ganzen Welt besucht. Es wurden Versammlungen organisiert, um die Anwendung gewaltfreier Methoden im politischen und gewerkschaftlichen Kampf zu verbreiten, den Wert jedes Einzelnen als Motor der Veränderung zu feiern und den Staat von seinem Sockel als Heilsbringer zu stoßen. Im heutigen Sizilien ist die Existenz einer breiten gesellschaftlichen Antimafia­front ohne die Lehren Dolcis nur schwer vorstellbar: die zentrale Rolle der Bildung als Faktor des Wandels; die Identifizierung der Mafia als Haupthindernis für jeden Fortschritt; die Bedeutung der Kommunikation und der Meinungsfreiheit; und nicht zuletzt der Wille, die eigenen Bedürfnisse ernst zu nehmen, um öffentlich Forderungen zu stellen und sie mit gewaltfreien Aktionen zu vertreten.

Dolci wurde nicht müde, neue Wege zu finden, um die Gleichgültigkeit des Staates zu erschüttern. Er erfand das „Radio der armen Christen“, ein illegaler freier Sender, das die verzweifelten Stimmen der Ärmsten der Armen verbreitete. Er brachte Mittellose, Bauern, Fischer und Gewerkschafter zusammen, um die in der italienischen Verfassung verbrieften Rechte einzufordern. Wenn es keine Arbeit gab, musste man sie eben aus dem Nichts schaffen. So erfand er den „umgekehrten Streik“: Im Februar 1956 begannen 200 Arbeitslose, eine kaputte Straße zu reparieren, ohne die der Ort von der Außenwelt abgeschnitten war. Wenn der Staat sich nicht darum kümmerte, dann würden eben sie, die arbeitslosen Bauern, die Arbeit erledigen, mit einem „Wenn es regnet“-Vertrag, d. h. die Zahlung wurde dem Staat sozusagen gestundet, bis die Bürokratie so weit war.

Für den Staat war das Vorgehen ein krimineller Akt. Danilo Dolci wurde vor Gericht gestellt und zu einer Gefängnisstrafe verurteilt. In seinen Büchern scheute er sich nicht, die Mafiosi beim Namen zu nennen, und das in einer Zeit, in der die pure Existenz der Mafia noch geleugnet wurde.

Gegen Danilo Dolci stellten sich sowohl der Staat – mit ständigen Anklagen und Verurteilungen – als auch die Kirche, die ihn als „eines der schlimmsten Übel Siziliens“ bezeichnete. Solidarität als wichtigste Waffe der Verzweifelten und Vereinzelten zu propagieren, war für die Machtgruppen unbequem. Daran hat sich bis heute nichts geändert. Am stärksten sind nicht die sogenannten Helden, sondern gemeinsames, kontinuierliches Handeln, eine soziale Antimafia, die in Italien immer noch eine Minderheit ist.

Betrachtet man die jüngeren Geschichten einiger italienischer sozialer Aktivisten, die zu Unrecht vom Staat verfolgt wurden, wird deutlich, warum es Italien noch nicht gelungen ist, das Phänomen Mafia endgültig zu besiegen.

Der Aktivist Danilo Dolci bei einem Hungerstreik 1965 in Palermo

Kämpfte vor allem kollektiv: der Aktivist Danilo Dolci bei einem Hungerstreik 1965 in Palermo Foto: ap/picture alliance

Die Mafia schafft Konsens in der Bevölkerung, mordet selten und ist ein verlässlicher Gesprächspartner in allen Situationen, in denen der Staat abwesend ist oder nur die repressive Dimension seiner selbst zeigt. Wer sich auf dem Gebiet des sozialen Aktivismus bewegt, ist zur Einsamkeit verdammt, die Geschichte von Danilo Dolci zeigt aber, dass diese Einsamkeit nicht zu Resignation führen muss.

„Wir dürfen nie denken, dass wir gewonnen haben“, erinnert Danilo Dolci in einem seiner Gedichte.

„Wir müssen wie ‚Mondzitronen‘ sein, die Fähigkeit haben, zu allen Jahreszeiten zu blühen, niemals zu ruhen.“

Revolution, sagt der italienische Gandhi, bedeutet nicht, „einem Bullen einen Stein an den Kopf zu werfen“, sondern das bereits existierende Gute zu erkennen, dem Anderen zu begegnen ihn wertzuschätzen und so „das Heilbare zu heilen“.

Nur so werden „die verstreuten menschlichen Atome zu neuen, kämpferischen Organismen und lernen, alles, was morsch und mafiös ist, hinter sich zu lassen“.

Aus dem Italienischen von Ambros Waibel