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Sensibilisierung für KopfverletzungenErschütterung im Spiel

Schwere Gehirnerschütterungen sind auch im Fußball keine Seltenheit. So zuletzt beim Spiel Schottland gegen Ungarn. Zeit für mehr Sensibilisierung.

Der ungarische Nationalspieler Barnabás Varga liegt verletzt am Boden Foto: Antonio Calanni/ap

Stuttgart taz | Das einzige Tor des Abends in der Nachspielzeit war dann nicht mehr wichtig. Alle dachten nur noch an diese Szene aus der 68. Minute, und so schnappten sich ungarische Spieler nach dem Schlusspfiff Trikots mit der Nummer 19: Barnabás Varga stand hinten auf dem Dress. Varga befand sich zu diesem Zeitpunkt schon auf dem Weg in ein Stuttgarter Krankenhaus. Er war eine knappe halbe Stunde vorher mit Schottlands Torwart Angus Gunn hart zusammengeprallt. Der 29-jährige Mittelstürmer der Ungarn blieb am Fünfmeterraum bewusstlos liegen, seine Arme zeigten einen Spasmus, sie ragten verkrampft nach oben, Zeichen eines schweren Schädel-Hirn-Traumas.

Minutenlang wurde Varga behandelt, wenngleich die etwas behäbig herbeieilenden Sanitäter erst von Spieler Dominik Szoboszlai angetrieben werden mussten. Decken wurden als Sichtschutz um das Unfallopfer hochgehalten, die Fußballfans fühlten sich an den tragischen Herzstillstand des Dänen Christian Eriksen bei der EM 2021 erinnert; damals bildeten die dänischen Spieler einen Paravent, hinter dem Eriksen erfolgreich reanimiert wurde.

Nach dem Vorfall am Sonntagabend gab der ungarische Fußballverband MLSZ auf der Plattform X nun vorsichtig Entwarnung. Der Angreifer von Ferencvaros Budapest sei „stabil“, hieß es. Er habe „mehrere Knochenfrakturen im Gesicht sowie eine Gehirnerschütterung“ erlitten, befinde sich im Krankenhaus in Stuttgart und werde „höchstwahrscheinlich“ operiert.

Ungarns Nationaltrainer Marco Rossi sagte im Interview mit der BBC: „Das Wichtigste ist, dass es Barni gut geht. Mal sehen, ob wir im Turnier weiterkommen, aber er wird sicher nicht mehr bei uns sein.“ Nach dem Zusammenstoß hatte im Stuttgarter Stadion lähmende Stille geherrscht. Ungarns Szoboszlai kämpfte mit den Tränen. In der 73. Minute wurde Varga auf einer Trage abtransportiert.

Kritik am Umgang mit Kopfverletzungen

„Ich war einer der Ersten, der da war. Ich war schockiert. Ich habe versucht, ihn auf die Seite zu drehen. Er wollte aufstehen, aber hat irgendwie keine Luft bekommen“, sagte Liverpool-Profi Szoboszlai. Er kritisierte das Protokoll der Uefa zum Umgang mit Kopfverletzungen und den langsamen Einsatz der Rettungskräfte: „Wir müssen das schneller machen. Jede Sekunde zählt.“ Last-Minute-Siegtorschütze Kevin Csoboth (90.+10) hielt nach dem Spiel wie gesagt das Trikot mit der Nummer 19 in die Höhe, Szoboszlai zog es über sein eigenes. Ungarn holte die drei Punkte, verdrängte die Schotten vom dritten Platz in der deutschen Gruppe A und hofft auf das Achtelfinale.

Gehirnerschütterungen sind nicht nur im American Football, Rugby und Eishockey weit verbreitet, sie kommen auch auf dem Fußballplatz häufig vor. In Luft- oder Kopfballduellen ist die Gefahr, mit den Schädeln zusammenzustoßen, groß, hinzu kommt die leider zu lasch geahndete Unart, die Ellenbogen auszufahren. Die Uefa startete erst 2019 eine „Kampagne zur Sensibilisierung für Gehirnerschütterung“.

Spieler, Trainer, Schiedsrichter, Ärzte und die Öffentlichkeit sollten über Gehirnerschütterungen im Fußball aufgeklärt werden. Man kam überein, dass jene drei Minuten, die im aktuellen Gehirnerschütterungs-Verfahren den Teamärzten gewährt werden, um die Diagnose zu stellen, möglicherweise unzureichend sein können und „dass Ärzte mit einer so begrenzten Zeit übermäßigem Druck von Spielern und Teambeamten ausgesetzt sein könnten“.

Der Vorsitzende des medizinischen Komitees der Uefa, Tim Meyer, sagte: „Wir müssen uns weiterhin mit der Frage befassen, wie Spieler mit Gehirnerschütterungen das Spiel fortsetzen. Die Kernbotschaft der Uefa in dieser Sensibilisierungskampagne zielt darauf ab, die Gesundheit der Spieler zu schützen.“ Man kooperiert mit dem Weltverband Fifa und dem Regelboard Ifab.

Entscheidung innerhalb von drei Minuten

Mittlerweile gibt es sogar eine „Charta der Gehirnerschütterung“ der Uefa. Klubs sind dazu angehalten, das Papier zu unterschreiben, und werden „nachdrücklich ermutigt“, bei Wettbewerben, „wenn möglich, ein medizinisches Videoüberprüfungssystem in ihren Stadien einzusetzen, um eine sofortige und informierte Verletzungsbewertung zu ermöglichen“.

Ist ein Spieler auf dem Platz angeschlagen und benommen, obliegt es aber nach wie vor allein dem Mannschaftsarzt, innerhalb von drei Minuten zu entscheiden, ob es weitergeht. Die Spieler, oft gefangen im typischen Männlichkeitsbild der Branche, drängen meist zurück aufs Feld. Die Sensibilisierung für das Thema befindet sich noch in den Anfängen. Warum nicht über eine Rote Karte für jeden Ellbogencheck nachdenken, über den verpflichtenden Einsatz eines Kopfschutzes, der auch die Wirkungstreffer beim Kopfball abmildert?

Das Thema ist zu wichtig, um es im „Wird schon irgendwie“ – Modus zu verwalten. Dutzende von NFL-Sportinvaliden, die unter den Folgen einer chronisch-traumatischen Enzephalopathie leiden, sind ein mahnendes Beispiel.

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