Kita-Streik in Berlin: Allein mit 15 Kindern

Er­zie­he­r*in­nen der landeseigenen Kitas fordern vom Senat bessere Arbeitsbedingungen. Am Donnerstag streiken sie wieder.

Menschen mit Postern bei Kita-Streik

Wortspiel mit Finanzsenator: Beim Kita-Streik fordern Er­zie­he­r*in­nen Verhandlungen mit Berlins Hüter des Geldes, Stefan Evers Foto: Christian von Polentz/Transit. Fotografie und Reportage

BERLIN taz | Es ist Freitagmorgen in einer kommunalen Kita im Berliner Süden. Ein kleines Mädchen mit wachen Augen springt in den Raum und begrüßt die Erzieherin mit einer festen Umarmung. Beim Lachen zeigen sich Grübchen in ihren Wangen. Die Erzieherin, die für diesen Text Nina Schröder heißen soll, spricht mit der Kleinen, aber sie antwortet nicht. Sie spricht kein Deutsch. Im nächsten Augenblick wird Nina woanders gebraucht: Ein kleiner Junge weint schon beim Bringen an der Eingangstür. Nina nimmt ihn auf den Arm. „Mama kommt nach dem Schlafen, okay?“, beruhigt sie ihn. Es dauert ein paar Minuten, bis die Erzieherin zum Essenswagen hinten im Raum zurückgehen kann. Dort war sie gerade dabei, das Frühstück vorzubereiten.

In den vergangenen zwei Wochen wurden die 282 landeseigenen Kitas für insgesamt vier Tage bestreikt. Die Gewerkschaft Verdi hatte zum Streik aufgerufen, um den Senat an den Verhandlungstisch für einen Tarifvertrag „Pädagogische Qualität und Entlastung“ zu bringen. Laut Verdi beteiligten sich täglich 3.000 Er­zie­he­r*in­nen an dem Streik, zwei Drittel der landeseigenen Kitas seien geschlossen gewesen. Inhalt des Zusatz-Tarifvertrags soll ein verbesserter Fachkraft-Kind-Schlüssel sein, der im Gegensatz zum jetzigen Personalschlüssel auch Personalausfall durch Urlaub, Weiterbildung und Krankheit berücksichtigt.

Nina schneidet eine Gurke in Scheiben. „Aus pädagogischer Sicht sollten die Kinder ihr Obst und Gemüse fürs Frühstück selbst schneiden, aber so geht es schneller! Schließlich bin ich allein“, erklärt sie. Die Erzieherin ist spät dran mit der Frühstücksvorbereitung. „Setzt euch alle schon mal hin!“, fordert sie die Kinder auf. Während sie noch die Brötchen aufschneidet, bedienen sich die Kinder am hinteren Tisch schon mal an der Wurst. Stillsitzen fällt den 3- bis 6-Jährigen schwer. Nina ermahnt die Kinder, leise zu sein. Einmal, zweimal, viele Male. Nach dem Frühstück verlässt sie den Raum, um den Wagen mit dem dreckigen Geschirr in die Küche zu bringen. Die Kinder sind in dieser Zeitspanne unbeaufsichtigt – genauso, wenn Nina auf die Toilette geht. Die Erzieherin hofft, dass die 6-Jährigen dann auf die Kleineren mit aufpassen.

Auf dem Papier betreuen 2,5 Fachkräfte die 15 Kinder der Gruppe. In der Praxis ist eine Kollegin seit einem Jahr krank. Als klar war, dass auch ihre zweite Kollegin länger ausfallen würde, hat Nina von Teilzeit in Vollzeit gewechselt. Was als kurzfristiges Aufstocken für vier Wochen geplant war, dauert nun schon länger als ein halbes Jahr. Weil entweder Nina oder ihre Kollegin im Urlaub, krank oder in einer Fortbildung war, haben sie nur tageweise zusammengearbeitet. Die meiste Zeit betreut entweder Nina oder ihre Kollegin die 15 Kindern allein.

Forderungen nach festen Zeiten für Aufgaben

Neben besserer Betreuung fordert Verdi eine festgelegte Zeit für Aufgaben wie Vorbereitung und Dokumentation, einen Belastungsausgleich und Verbesserungen in der Ausbildung. Das sind laut Verdi Gewerkschaftssekretärin Tina Böhmer Maßnahmen, die den Beruf der Er­zie­he­r*in wieder attraktiv machen können und die die pädagogische Qualität in den Kitas sichern. Es brauche eine echte Trendwende, sagt Böhmer. „Viele angehende Er­zie­he­r*in­nen brechen ihre Ausbildung ab oder verabschieden sich schnell in andere Berufe, weil die Arbeitsbedingungen schlecht sind“, sagt sie. „Dazu kommt, dass ein großer Teil der Beschäftigten in Teilzeit arbeitet, um die persönliche Gesundheit zu schützen.“ Wären die Arbeitsbedingungen besser, würden auch mehr Er­zie­he­r*in­nen in Vollzeit arbeiten, meint Böhmer.

Die Senatsverwaltung für Finanzen lehnt Verhandlungen darüber mit der Begründung ab, dass die Tarifgemeinschaft der Länder (TdL) keine eigenen Tarifverträge erlaube. Dieses Argument lässt Böhmer nicht gelten. „Wo ein politischer Wille ist, ist auch ein Weg“, sagt sie. Beispiele für Einzelverhandlungen gebe es viele. „Die Frage ist: Wie viel ist uns frühkindliche Bildung wert?“

„Es gibt heute viel mehr Kinder mit emotionalen und motorischen Defiziten“, erklärt Nina. „Die Kinder wissen nicht, wie sie ihre Gefühle äußern können.“ Inzwischen seien die Kinder in der Kita, die in frühkindlicher Phase von den Kontaktverboten in der Coronapandemie geprägt wurden. Es fehle das Personal, um deren Bedürfnisse aufzufangen. Wie ihre Kol­le­g*in­nen fordert sie kleinere Gruppen und mehr Personal.

Nina war schon am dreimonatigen Kita-Streik 1990 beteiligt. Sie hat erfahren, wie die Ansprüche an ihren Beruf in den Jahrzehnten gestiegen sind. Den Er­zie­he­r*in­nen in ihrer Kita werden pro Woche zwei Stunden für Schreibarbeit zugeteilt. „Wenn eine Erzieherin alleine ist, kann sie sich diese Zeit aber nicht nehmen“, sagt Nina. Zur Schreibarbeit zählt: Fragenkataloge zu Entwicklungsschritten beantworten, Elterngespräche vorbereiten, Fotos für die Sprachlerntagebücher machen, drucken, einkleben, mit jedem einzelnen Kind besprechen und das Gesagte verschriftlichen – Aufgaben, die alle in Anwesenheit der Kinder erledigt werden müssen, neben Vorbereitungen fürs tägliche Programm und dem Staubwischen auf den Regalen. „Für mich sind die Kinder wichtiger. Ich möchte mich nicht hier hinsetzten und die Kinder ignorieren, um administrative Arbeit zu erledigen“, sagt Nina. Was bleibe, sei das schlechte Gewissen, ihren Aufgaben nicht gerecht zu werden.

Tarifabschluss soll sich auch auf die freien Träger auswirken

Guido Lange vom Landeselternausschuss Kita (LEAK) kritisiert das Timing der Streiks. Er fände es richtig, wenn Verdi die Forderungen in den Verhandlungen über Kitafinanzierung im kommenden Jahr stellen würde. Dort verhandelte Regelungen würde für alle Berliner Kitas gelten und nicht nur für die Eigenbetriebe. Lange geht davon aus, dass die Mehrheit der betroffenen Eltern den Streik nicht unterstützt. Die Verdi-Gewerkschaftssekretärin Tina Böhmer dagegen meint, dass die meisten Eltern die Gründe der Streiks verstehen. „Auch ohne Streik werden Kita-Gruppen kurzfristig geschlossen, weil zu wenig Personal da ist“, sagt sie. An der Verdi-Aktion, Beschwerde-E-Mails an den Regierenden Bürgermeister Kai Wegner (CDU) zu senden, hätten mehrere Hundert Eltern teilgenommen. Von einem Tarifabschluss erhofft die Gewerkschaft sich eine Leuchtturmwirkung, die auf die freien Träger ausstrahlt.

Nach der Morgenrunde geht es zum Spielen raus in den Garten. Hier gibt es Klettergerüste, Schaukeln und einen Bolzplatz. In den Himmel über den Kindern ragt ein Hochhaus mit Satellitenschüsseln auf den Balkonen. Draußen muss Nina ein Mädchen besonders im Blick behalten: Das 4-jährige Mädchen, das am Morgen noch so fröhlich wirkte, fängt immer wieder an zu weinen. Sie ist nicht hingefallen und hatte keinen Streit mit einem anderen Kind – sie sitzt einfach nur da und weint. Keiner weiß, warum. Niemand spricht ihre Sprache. Nina setzt sich neben sie, nimmt das Mädchen in den Arm und lässt sie kräftig ins Taschentuch schnäuzen. Die Tränen trocknen und das Mädchen springt auf, um spielen zu gehen.

Ein Junge kommt angelaufen und berichtet aufgeregt, er sei beim Ballspielen ins Gesicht geschlagen worden. Nina geht zielstrebig auf den beschuldigten Jungen zu. Es sind keine Kinder aus ihrer Gruppe, aber sie ist da. Sie setzt sich hin. Der Junge erklärt auf Augenhöhe, was passiert ist. Er schaut dabei zu Boden und knetet seine Finger. Nina lässt ihm Zeit, um die richtigen Worte zu finden: „Ich habe ihn aus Versehen im Gesicht getroffen“, sagt er. Der Junge entschuldigt sich. Die Entschuldigung wird angenommen und beide Jungen rennen weg, um weiterzuspielen.

Danach ist Mittagsruhe. Nina setzt sich auf den Boden und lehnt sich an die Wand. Die Kinder liegen um sie herum auf ihren Matten. Zum ersten Mal heute ist es leise im Gruppenraum. Nina liest eine Geschichte vor. Danach fordert sie die Kinder auf, 10 Minuten still zu bleiben. Nur ein gelegentliches Rascheln ist zu hören. Jetzt macht sie auch für einen Momente die Augen zu. Mehr Pause wird sie an diesem Tag nicht bekommen.

Die Bildungssenatorin zeigt sich gesprächsbereit

Ein erstes Gespräch zu Arbeitsbedingungen und geforderten Entlastungen für das pädagogische Personal gab es bereits zwischen Verdi und der Bildungssenatorin Katharina Günther-Wünsch (CDU). „Noch keine Verhandlung, aber ein Anfang“, sagt Gewerkschaftssekretärin Böhmer optimistisch. Am selben Tag kündigte Verdi ein Gespräch mit Wegner an. Auf die taz-Nachfrage, ob der für Tarifverhandlungen zuständige Finanzsenator Stefan Evers (CDU) nun auch in einen Dialog mit Verdi eintritt, hieß es, er stehe laufend mit Verdi und anderen Gewerkschaften in Kontakt.

Nina hat die Nachricht erhalten, dass Verdi für kommenden Donnerstag zum nächsten Streik aufgerufen hat. Bis zur Rente bleiben ihr noch 10 Jahre. „So lange halte ich die Lautstärke nicht aus“, sagt sie. Sie hat in verschiedenen Berufen gearbeitet. Sie ist eine Rückkehrerin, die nun über eine erneute Abkehr vom Beruf der Erzieherin nachdenkt. „Ich kenne die Vorzeichen bei mir: ein nervöses Zucken im Auge, ein Pfeifen im Ohr. Dann weiß ich, dass ich die Reißleine ziehen muss.“ Anfang des Jahres hat Nina einen großen Präsentkorb mit Feinkost von den Eltern geschenkt bekommen. „Als Dankeschön dafür, dass ich hier die Stellung gehalten habe und so gute Arbeit leiste, dass die Kinder gerne in die Kita kommen. So eine Anerkennung habe ich noch nie bekommen“, sagt sie sichtlich gerührt.

Als die Kinder abgeholt werden, informiert sie die Eltern an der Tür über den kommenden Streiktag. „Ist die Kita dann ganz zu?“ fragt eine Mutter vorsichtig. „Ja, ganz zu“, antwortet Nina. Die Mutter seufzt nur leise.

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