Sportpsychologin über Fußball: „Den Leitwolf braucht es nicht“

Fußball ist Kopfsache, gerade bei Turnieren und K.-o.-Spielen, sagt die Sportpsychologin Babett Lobinger. Sie weiß, was ein High-Performance-Team auszeichnet.

Sebastian Schweinsteiger liegt auf dem Rasen

So was sieht Deutschland gern: Kampfgeist und Schmerzensmänner, wie hier Bastian Schweinsteiger im WM-Finale 2014 Foto: David Gray/reuters

wochentaz: Frau Lobinger, bei Großturnieren hat immer auch die Küchenpsychologie Konjunktur. „Die haben den Sieg nicht genug gewollt“, „die müssen mehr dran glauben“ oder „da stimmt die Einstellung nicht“. Muss man einen Sieg genug wollen, um ihn zu holen?

Babett Lobinger: Kein kategorisches Nein, aber als Kommentaraussage ist es eher eine Worthülse. Man muss den Sieg schon wollen, aber das ist keine Frage der Einstellung auf dem Platz allein. Man kann so ein Turnier als Projektaufgabe sehen. Etwa wie: Ich plane einen Umzug, und ich will, dass an diesem Tag alles reibungslos klappt. Man sollte schon ein Jahr vorher den Sieg wollen. Dann überlegt man sich: Welche Spielertypen brauche ich dafür? Wann bereite ich was vor?

57, ist Psychologin und Sportwissenschaftlerin. Lobinger lehrt und forscht an der Deutschen Sporthochschule Köln und ist dort auch in der Trainerausbildung tätig

Sie forschen seit 1998 an der Sporthochschule Köln und bilden seit 2006 Spit­zen­trai­ne­r:in­nen beim DFB psychologisch aus. Was hat sich in den Jahrzehnten verändert?

Vor 15 Jahren gab es zumeist den Cheftrainer, den Torwarttrainer und zwei Co-Trainer. Jetzt haben wir immer mehr Spezialisten in den Teams. Die Expertise hat sich aufgefächert, auf den Cheftrainer kommt viel mehr Führungsarbeit zu und viel Öffentlichkeitsarbeit. Auch die Sportpsychologie hat sich enorm geändert. Wir haben Jürgen Klinsmann sehr viel zu verdanken, der aus den USA kam und gesagt hat: Sportpsychologen gehören einfach dazu. Oder einem Dirk Nowitzki. Die Amerikaner waren uns weit voraus, indem Sportpsychologinnen nicht nur in Extremsituationen dazugehören, sondern auch in der Trainingsroutine.

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Haben heute alle Profiteams Sportpsycholog:innen?

Von den Vereinen der ersten drei Ligen haben alle mindestens einen Psychologen. Es steht auch einzelnen Spielern frei, mit einem eigenen Sportpsychologen zusammenzuarbeiten. Vor fünf, sechs Jahren ist es uns auch gelungen, Kolleginnen und Kollegen in den U-Mannschaften des DFB und in den Nachwuchsleistungszentren zu installieren. Ein 15-jähriger Fußballer trifft heute eine Psychologin eher beim Leistungssport als in der Schule. Das ist eine gute Nachricht für den Sport, eine schlechte für die Schulen.

Was macht eine Team­psychologin bei so einem Großturnier?

Man ist Teil des Teams und macht ein Angebot. Dieses kann ein Spieler aufgrund einer Verletzung, aufgrund von Problemen beim Verein oder in der Familie wahrnehmen. Oder weil er eine Rolle im Team ausfüllen muss, mit der er weniger zufrieden ist. Und es gibt sehr ausgefeilte Teammaßnahmen. 2010 in Südafrika zum Beispiel die Tour auf dem Segelboot, als Metapher: Es klappt nur, wenn eine Hand der anderen hilft.

Wie viel Prozent macht die Psyche im Fußball aus?

Der Anteil nimmt zu, wenn das Leistungsvermögen der Konkurrenten relativ gleich ist. Die kompletteste Mannschaft, die am besten vorbereitet ist, aber trotzdem flexibel bleibt und die zudem an sich glaubt, gewinnt. Es spielt auch eine Rolle, ob ich mich auf die Gelegenheit freue – denn wie oft gibt es schon ein Heimturnier in einem Fußballerleben?

Gibt es denn den Heimvorteil wirklich?

Bei den vergangenen Fußball-Großturnieren in Deutschland gab es einen eklatanten Unterschied: Die Männer wirkten 2006 total beflügelt, den Frauen schien 2011 die Erwartungshaltung wie Blei auf den Schultern zu liegen. Es gibt relativ viel Forschung zum Vorteil im eigenen Stadion. Der Tenor ist, dass es ihn im Grunde statistisch nicht gibt. Es scheint schon einen Einfluss von den eigenen Fans zu geben, aber das hat auch mit der Körpersprache zu tun, die ich als Platzherr habe. Der Trainer steht noch mehr unter Beobachtung und trifft vielleicht auch mutigere Entscheidungen. Es kann aber auch ins Gegen­teil kippen, wenn die Erwartungshaltung lähmt. Auch wenn wir es nicht im Detail messen können, wird so ein Heimturnier einen Effekt haben. Mit den rosafarbenen Trikots und dem neuen Trainer Julian Nagelsmann ist die Stimmung wirklich ins Positive gekippt.

Wie hat Nagelsmann das geschafft? Im Herbst war noch gefühlt Land unter, viele Fans fühlten sich völlig entfremdet vom DFB.

Nagelsmann steht symbolisch für diesen Umschwung, aber es war sicherlich nicht nur er. Es gibt eine Reihe von jungen Spielern wie Florian Wirtz, wo es einfach wahnsinnig Spaß macht, denen zuzugucken. Wir hatten eine Bundesliga-Saison, wo Mannschaften wie der VfB Stuttgart vorne mitgespielt haben, und es sind Spieler für den DFB nominiert worden, die quasi auf dem zweiten Bildungsweg kamen. Vielleicht waren die Menschen auch ausgehungert nach positiver Stimmung inmitten der ganzen schlechten politischen Nachrichten. Julian Nagelsmann hat deutlich gemacht, dass ihm die Stimmung unglaublich wichtig ist. Das ist ein Tross von 60 Leuten, und man darf nicht vergessen: Viele haben die vorherigen Turniere noch in den Knochen. Und es war ein kluger Schachzug, Kroos zurückzuholen.

Die Rückkehr von Toni Kroos war emotional extrem wichtig, die Leitwolf-Metapher ist ein Lieblingsthema der Deutschen. Braucht es den auf dem Platz?

Ich glaube, den braucht es nicht. Leverkusen zum Beispiel spielt unter Xabi Alonso ein Stück weit spanischen Fußball. Da passt eher eine Schwarm-­Metapher. Diese deutschen Tugenden und die öffentliche Suche nach dem Leitwolf, die braucht es nicht. Jede Gruppe hat ihre Hierarchie. Hierarchie tut einer Gruppe auch gut, weil Spieler Verantwortung übernehmen.

Der Stammtisch sagt dann gern: „Da muss jetzt jemand vorangehen“, „ein Zeichen setzen“. Wie geht das konkret?

Superspannende Frage. Die Forschung aus jüngerer Zeit sagt: High-Performance-Teams haben vier Arten von Führungsspielern. Es gibt den taktischen Leader, der die rechte Hand vom Trainer sein kann. Es gibt einen emotionalen Leader, der insgesamt für gute Stimmung sorgt. Es gibt einen, der, wenn es schlecht läuft, sagt: Come on, let’s go! Und es gibt ein Gesicht der Mannschaft nach außen, einen, den man immer in die Pressekonferenz schicken kann und mit dem sich die meisten Fans identifizieren können.

Wer sind diese Typen im DFB-Team?

Joshua Kimmich hat eine sehr professionelle Einstellung, er will immer gewinnen, auch wenn es schlecht läuft. Antonio Rüdiger oder Toni Kroos sind als Gesichter der Mannschaft international bekannt. Wenn die auflaufen, werden sie von der Hälfte der Spieler der anderen Nationalmannschaften begrüßt. So was gibt einer Mannschaft ein anderes Gewicht. In deren Windschatten haben wir viele neue Nationalspieler, die mit großem Selbstbewusstsein zum Turnier anreisen.

Von Marco Reus gibt es das berühmte Zitat: „Kommt mir jetzt nicht mit eurem Mentalitätsscheiß.“ Gibt es mental starke und schwache Teams?

Es gibt Teams, die über ihrem Leistungsniveau performen. Aber das ist keine Frage der Mentalität. Das hat man sich erarbeitet. High-Performance-Teams haben klare ­Regeln: Man wertschätzt den anderen mit seinem Leistungsvermögen, man klärt, was einem als Team wichtig ist. Das braucht Zeit. Die Leverkusener zum Beispiel hatten Geduld. Das haben in diesem schnelllebigen Geschäft nicht viele.

Im WM-Finale 2014 galt Bastian Schweinsteiger als Held, weil er „für Deutschland geblutet“ habe, Mesut Özil wurde für angeblich hängende Schultern kritisiert. Ist das ein deutsches Ding, den Mangel an Fußballwissen so stark mit Pseudo­psychologie zu kaschieren?

Wenn ich die internationale Presse lese, finde ich schon, es ist differenzierter. Am Ende eines Spiels wissen wir bei deutschen Kommentatoren zumeist wenig darüber, wie etwa Einwechslungen die taktische Ausrichtung verändert haben. Man könnte viel stärker fachlich berichten.

Verhindert die Mentalitätsobsession analytischen Fortschritt in Deutschland?

Ich glaube, das sind zwei Welten. Das eine ist die Bericht­erstattungsblase und das andere ist der Profifußball, der schon analytisch genug ist. Da droht manchmal schon fast Paralyse durch Analyse. Wenn wir im Vorfeld eines Elfmeters eine psychologische Routine er­arbeitet haben, braucht der Spieler niemanden mehr, der ihm Details erklärt und damit unter Umständen Automatismen kaputt macht.

Hatten Sie eigentlich Julian Nagelsmann in der Trainerausbildung?

Ja.

Welchen Eindruck hatten Sie von ihm?

Er ist schon als Trainertalent gekommen, daran hat eigentlich keiner gezweifelt. Er war fachlich klar und sprachlich klar, vom Fußball fasziniert und mit dem Anspruch an sich, ein Top-Experte zu sein. Sehr interessiert und differenziert.

Gibt es einen wichtigsten Ratschlag, den Sie Trai­ne­r:in­nen mit auf den Weg geben?

Meistens mehr als bloß einen. Der wichtigste wäre: Manchmal neigen wir dazu, Leute besser machen zu wollen, indem wir sie mit ihren Schwächen und Fehlern konfrontieren. Das finde ich schon typisch deutsch. Und es gerät völlig in Vergessenheit, worin wir stark sind. Wenn man ein sehr guter Trainer ist, sieht man die verborgenen Stärken eines­ Spielers. Ich bin mir ziemlich sicher, dass wir bei der EM den einen oder anderen Spieler erleben werden, der uns positiv überrascht.

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