Jüdisches Leben in Ostpreußen: Aus einer untergegangenen Welt

1941 schrieb der Lyriker Manfred Sturmann seine Erinnerungen an den jüdischen Großvater nieder. Nun wurde „Großvaters Haus“ verlegt.

See in Königsberg, Südseite, Ostpreußen, digital restaurierte Reproduktion einer Photochromdruck aus den 1890er-Jahren

Königsberg um 1890 Foto: H.Tschanz-Hofmann/imago

Kindheitserinnerungen, das sind in Wahrheit häufig Mahnungen der Alten an die Jüngeren, in denen geschrieben steht, wie es zuzugehen hat, damit es so schön wird, wie es früher angeblich einmal war. Großväter erscheinen in diesen Werken als weise alte Herren, ausgestattet mit unendlicher Güte, die den Erzählenden in die richtigen Bahnen lenken.

Doch da kommt eine Neuerscheinung daher, mit dem Titel „Großvaters Haus“, die ist das glatte Gegenteil des Erwarteten. Denn dieser Großvater hat nichts mehr weiterzugeben. Es ist nämlich nichts mehr da. Die alte Welt, von der Manfred Sturmann in seinen Erinnerungen schreibt, ist gleich in dreifacher Hinsicht untergegangen.

Denn dieses Buch handelt erstens vom deutschen Leben in Ostpreußen, und das ist seit 1945 Vergangenheit. Es geht zweitens um einen jüdischen deutschen Großvater namens Jakob Akiba Sturmann und eine jüdische Kindheit dort, und beides ist von den Nazis ausgelöscht worden. Und zum Dritten ist dieser preußische Großvater in religiös-orthodoxen Vorstellungen verhaftet, die es dort schon gar nicht mehr gibt.

Und doch ist da nichts Weinerliches in diesem Bändchen. Sturmann berichtet in wunderbar klarer Sprache vom jüdischen Alltag in Königsberg und den Versuchen des in Osterode als Prediger wirkenden Großvaters, aus seinem Enkel einen Religions­gelehrten zu machen, was ihm nicht gelingt.

Manfred Sturmann: „Großvaters Haus. ­Erinnerungen an eine jüdische Kindheit in Ostpreußen“. Wallstein Verlag, Göttingen 2024, 184 Seiten, 24 Euro

Vor dem Ersten Weltkrieg

Dabei war dieser Jakob Sturmann ein Patriarch, jemand, den man in seiner Stadt grüßte, wenn er auf dem Bürgersteig entgegenkam, damals in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg, als alle Welt an den Fortschritt glaubte und in deutschen Klein­städten neue Synagogen errichtet wurden, dem Antisemitismus zum Trotz.

Und doch entgleitet dem alten Sturmann seine Gemeinde ebenso wie sein Enkel. Vom Zionismus will er nichts wissen. Der Erste Weltkrieg zerstört die alten Gewissheiten. Von den Nazis bekommt er nichts mehr mit. Jakob Sturmann starb schon 1917. Sein Enkel Manfred rettete sich 1938 nach Jerusalem. Dort ist der Autor 1989 im Alter von 86 Jahren verstorben.

Es ist eine eigene Geschichte, dass sich zu seinen Lebzeiten nach 1945 kein Verleger fand, der dieses Buch herausbringen wollte. Die Deutschen waren wohl zu sehr mit ihrem eigenen Leiden beschäftigt, als dass sie das Leiden derjenigen berücksichtigen, die sie selbst vertrieben und ermordet hatten.

Dem Literaturwissenschaftler Dirk Heißerer ist es zu verdanken, dass man jetzt endlich die Geschichten über den jüdischen Großvater lesen kann. Er hat die Erinnerungen Sturmanns vorbildlich editiert und um Dokumente aus dem Leben des Großvaters angereichert.

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