Neue Front in der Ukraine: Russische Angriffe in Nordukraine
Russland greift die Nordukraine an, die ukrainische Armee kann den Vormarsch nur verlangsamen. Ihre Hauptprobleme: Munitions- und Personalmangel.
Extrem schwierig, aber unter Kontrolle – so beschrieb der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj die Lage an der Front, nachdem er am Donnerstag die umkämpfte Stadt Charkiw besucht hatte. Seit einer Woche haben russische Truppen die Staatsgrenze im Norden der Ukraine überschritten und damit einen neuen Frontabschnitt eröffnet. In dieser Woche gelang es ihnen, zehn zerstörte Grenzdörfer zu erobern und Straßenkämpfe in der Kleinstadt Wowtschansk aufzunehmen.
Die russischen Truppen konnten Schwachstellen in der ukrainischen Verteidigungslinie finden, die es ihnen ermöglichten, bis zu acht Kilometer tief in ukrainisches Territorium einzudringen. Analysten gehen davon aus, dass der ursprüngliche Zweck dieses Angriffs darin bestand, die ukrainische Militärführung zu zwingen, Reserven von den Hauptfrontgebieten in der Region Donezk in die Region Charkiw zu verlegen.
Mithilfe von Flugzeugen, Artillerie und kleinen Infanteriegruppen gelang es den russischen Streitkräften, sich in den besetzten Gebieten zu halten. Nach Angaben des Oberbefehlshabers der ukrainischen Streitkräfte, Oleksandr Syrskyj, ist es den Russen gelungen, die aktive Kampfzone um 70 Kilometer zu erweitern, sodass die Gesamtlänge der Frontlinie nun rund 870 Kilometer beträgt.
Ein weiterer Grund für den schnellen Vormarsch der Besatzungstruppen ist die schlechte Vorbereitung der Befestigungen durch die ukrainische Seite an der ersten Verteidigungslinie. Hier wiederholen sich Fehler, die die ukrainische Führung bei der Verteidigung von Städten wie Sewerodonezk, Lisitschansk, Bakhmut und Awdijiwka begangen hat, und so droht nun auch der Verlust von Wowtschansk. Die Stadt, die bereits 2022 unter russischer Besatzung stand und fünf Kilometer von der russischen Grenze entfernt liegt, hat keine vorbereiteten Verteidigungsanlagen.
Wolodymyr Selenskyj wechselte am ersten Tag des russischen Angriffs und der Entdeckung dieses Problems den für die Verteidigung dieses Frontabschnitts zuständigen Kommandeur. Die ukrainischen Truppen sind nun jedoch gezwungen, die Befestigungen unter Kampfbedingungen und unter ständigen Luftangriffen zu errichten.
„Die Situation ist sehr ernst“
Nichtsdestotrotz stellen Militäranalysten fest, dass es der ukrainischen Seite durch die Verlegung von Reserven gelungen ist, den Vormarsch der russischen Truppen in dieser Phase deutlich zu verlangsamen. Jedoch wird Russland weiter in diese Richtung drängen, um nicht nur eine Pufferzone im russisch-ukrainischen Grenzgebiet zu schaffen, sondern auch eine Position für weitere Offensivaktionen tief auf ukrainischem Territorium.
Es ist nicht auszuschließen, dass die russische Seite zur Erreichung dieser Ziele zusätzliche Reserven einsetzt und unter den Bedingungen der Überlegenheit bei Ausrüstung, Luftwaffe und Personal versucht, näher an Charkiw heranzukommen. Eine Einnahme oder Einkesselung der zweitgrößten Stadt der Ukraine, die täglich mit Raketen und Drohnen angegriffen wird, droht derzeit nicht.
Militäranalysten bezeichnen jedoch eine Annäherung der russischen Streitkräfte auf eine Entfernung von 20 Kilometern als kritisch für die Stadt, da diese dann die Stadt mit Raketenartillerie beschießen könnten. „Die Situation ist sehr ernst“, sagte Präsident Selenskyj in einem Interview mit ABC News während eines Besuchs in Charkiw, „wir können es uns nicht erlauben, Charkiw zu verlieren. Alles, was wir brauchen, sind zwei Patriot-Systeme.“
Die USA äußern weiterhin ihre Ablehnung, ukrainische Angriffe auf militärische Systeme und Ziele in Russland zu unterstützen, von wo aus die Offensive auf ukrainisches Territorium direkt vorbereitet und unterstützt wird. Gleichzeitig hat die militärische und politische Führung der Ukraine wiederholt erklärt, sie beobachte eine Konzentration russischer Truppen in der Region Sumy, was auf die Absicht hindeuten könnte, auch diesen Grenzabschnitt anzugreifen und damit einen weiteren Frontabschnitt zu eröffnen.
Intransparenter Mobilisierungsmechanismus
Um die russische Offensive abzuwehren, muss die Ukraine zwei zentrale Probleme lösen: Munitionsmangel und Personalmangel. Obwohl die Vereinigten Staaten nach sechsmonatiger Verzögerung nun ein militärisches Hilfspaket für die Ukraine bereitgestellt haben, erfolgen die tatsächlichen Lieferungen oft mit erheblicher Verspätung.
Die bevorstehenden Präsidentschaftswahlen in den USA und der mögliche Führungswechsel bei ihrem wichtigsten Verbündeten bereiten den Ukrainer*innen außerdem große Sorgen, da sie nicht sicher sind, ob sie weiterhin von den USA unterstützt werden. Obwohl die Ukraine versucht, eine eigene Waffenproduktion aufzubauen, wird diese noch nicht die Mengen erreichen, die für den Kampf gegen Russland benötigt werden.
Das Inkrafttreten eines neuen ukrainischen Gesetzes über die Mobilmachung am 18. Mai dürfte den Rekrutierungsprozess für die Verteidigungskräfte erheblich erleichtern und den Personalmangel in der ukrainischen Armee verringern.
Darüber hinaus besteht in der vom Krieg erschöpften ukrainischen Gesellschaft ein großes Bedürfnis nach Gerechtigkeit: die Verantwortung für die Verteidigung des Landes solle gleichmäßig auf die verschiedenen Teile der Bevölkerung verteilt werden. Und die Armeeangehörigen, die seit mehr als zwei Jahren an der Front sind, sollten die Möglichkeit haben, zu rotieren.
Die Intransparenz des bisherigen Mobilisierungsmechanismus, vereinzelte, aber weithin bekannte Fälle von Zwangsmobilisierungen und das Fehlen einer angemessenen Kommunikation seitens des Staates haben dazu geführt, dass die Motivation der ukrainischen Männer, ihr Land zu verteidigen, nach mehr als zwei Jahren existenziellen Kampfes nachgelassen hat.
Stromausfälle können den ganzen Sommer über andauern
Vor diesem Hintergrund üben auch die russischen Angriffe auf die Energieinfrastruktur der Ukraine erheblichen Druck auf die ukrainische Gesellschaft aus. Mitte Mai führte Russland einen massiven Raketen- und Drohnenangriff auf Energieanlagen in sechs Regionen der Ukraine durch. Dadurch kam es zu erheblichen Engpässen in der Stromversorgung, die zu Notstromausfällen für Unternehmen und private Verbraucher*innen führten.
Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.
Der staatliche Stromnetzbetreiber Ukrenerho erklärte, dass solche Zwangsmaßnahmen mit dem Tempo der Reparatur der zerstörten Infrastruktur zusammenhängen. „Wir reparieren, aber die Russen zerstören wieder. Unsere Partner liefern Luftabwehrsysteme, die die Effektivität der Angriffe verringern und uns Zeit geben, mehr zu reparieren. Das ist der Wettbewerb, in dem wir leben“, sagt Oleksandr Kharchenko, Direktor des Energieforschungszentrums.
Experten gehen davon aus, dass solche Stromausfälle in der Ukraine den ganzen Sommer über andauern können und die Ukrainer*innen mindestens für die nächsten Jahre mit Defiziten im Stromnetz leben müssen.
Trotz all dieser Herausforderungen ist die große Mehrheit der Ukrainer*innen nach wie vor davon überzeugt, dass keine Verhandlungen mit dem Kreml das Ende des Krieges und den Abzug der russischen Truppen aus der Ukraine näherbringen werden. Die russischen Angriffe vom Boden, vom Wasser und aus der Luft bestätigen diese Überzeugung. Die Wiederaufnahme von Verbrechen durch russische Truppen wird bereits von den Menschen bestätigt, denen die Flucht aus den wiederbesetzten Gebieten im Norden der Region Charkiw gelungen ist.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Neuwahlen
Beunruhigende Aussichten
Altersgrenze für Führerschein
Testosteron und PS
Berichte über vorbereitetes Ampel-Aus
SPD wirft FDP „politischen Betrug“ vor
Scholz telefoniert mit Putin
Scholz gibt den „Friedenskanzler“
Toxische Bro-Kultur
Stoppt die Muskulinisten!
Grünen-Parteitag in Wiesbaden
Grüne wählen neue Arbeiterführer