Weltkriegsgdenken in Russland: Gekaperte Erinnerung in Russland
Bei der militärischen „Siegesparade“ auf dem Roten Platz in Moskau betreibt Kremlchef Wladimir Putin erneut Geschichtsklitterung im großen Stil.
![Männer sitzen in einer Reihe - darunter auch Militärs Männer sitzen in einer Reihe - darunter auch Militärs](https://taz.de/picture/6992506/14/35291590-1.jpeg)
Die Alten, das sind die übriggebliebenen Zeitzeugen des Zweiten Weltkriegs, des „Großen Vaterländischen“, wie er in Russland heißt. Die Jungen, das sind die, die Putin einst für „Verdienste“ in Butscha ehrte – der ukrainischen Stadt, die wegen der Massaker der russischen Armee zum Symbol der Gräueltaten Russlands in der Ukraine geworden ist. Für Putin ist seine „militärische Spezialoperation“ eine Fortsetzung des Zweiten Weltkriegs. Wie nie zuvor zieht er diese Linie.
Der 9. Mai, dieser „Tag des Sieges“, wie ihn Russ*innen bezeichnen, ist ein identitätsstiftender Tag, in dem sich jede/r findet, egal welcher politischen Überzeugung er oder sie ist. 27 Millionen sowjetische Bürger*innen waren im Zweiten Weltkrieg gefallen, es gibt keine russische Familie, die niemanden zu betrauern hätte. Die Erinnerung aber und die Trauer um die Toten und Versehrten hat der russische Staat gekapert. Das Gedenken ist zu plakativen Losungen verkommen, zu Parolen vom „unbesiegbaren Russland“.
Die Parade auf dem Roten Platz ist ein jährliches Ritual voller neomilitaristischer Rhetorik, bei dem Putin wortreich Rache an denen zu nehmen versucht, die seine Sicht der Dinge nicht teilen. „Revanchismus und Verhöhnung der Geschichte sind Teil der Politik westlicher Eliten“, sagt er an seinem Rednerpult.
Dank dem chinesischen Volk
Er betreibt Geschichtsvergessenheit, indem er behauptet, die ersten drei Jahre im Zweiten Weltkrieg sei die Sowjetunion auf sich allein gestellt gewesen. Die Anti-Hitler-Koalition lässt er beiseite. Dafür dankt er dem „Widerstandsgeist und Mut des chinesischen Volkes“. Der Westen wolle die Lehren aus dem Zweiten Weltkrieg vergessen, behauptet Putin und droht: „Unsere strategischen Kräfte sind immer in Kampfbereitschaft.“
Soldaten, die in der Ukraine kämpfen, nennt er Helden, sie führten den Kampf der Vorväter fort. „Heute verneigen wir uns im Andenken an alle, deren Leben der Große Vaterländische Krieg genommen hat“, sagt er.
Derweil veröffentlichen russische unabhängige Journalist*innen eine Liste der Männer und Frauen aus der Ukraine, die die Bomben im Zweiten Weltkrieg überlebt haben, den Angriffen der russischen Armee jedoch zum Opfer gefallen sind. An sie denken weder Putin noch die vielen Besucher*innen, die samt Kindern an den Absperrungen ihren „Helden“ zujubeln.
„Ruf einfach ‚Hurra‘“
„Wir müssen es diesen Schurken in der Ukraine zeigen“, sagt einer am Neuen Arbat, der Moskauer Prachtmeile unweit des Kremls. Knapp 60 Militärfahrzeuge fahren an ihnen vorbei. „So wenig diesmal. Ich glaube, die verarschen uns hier alle. Die Iskander-Raketen fahren doch sicher schon die zweite Runde, um uns den Eindruck zu vermitteln, sie hätten mehr zu bieten“, sagt ein junger Mann in einer Tarnfarben-Jacke zu seinem Freund neben einem zentralasiatischen Restaurant.
Sie haben sich in Russland-Fahnen gewickelt, winken den Soldaten in den gepanzerten grünen Fahrzeugen zu. „Nur ein Panzer?“, sagt ein Fünfjähriger, der auf den Schultern seines Vaters hockt. „Sei nicht enttäuscht, ruf einfach ‚Hurra‘“, rät dieser dem Kleinen und nimmt ihn wieder herunter. Durch den Schnee gehen sie zur Metro. Die orangefarbenen Räumfahrzeuge putzen den Asphalt.
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