Trauma, Ukraine, Nahost: Risse wie Abgründe
Aggressionen hinterlassen tiefe Spuren: sowohl der Angriffskrieg gegen die Ukraine als auch der Überfall der Hamas auf Zivilisten. Wie damit umgehen?
V iele Risse ziehen sich durch mein Leben, und erst vor einigen Wochen, als ich auf meiner Couch sitze, spüre ich, welchen Knacks sie in meiner Biografie, in meinem Alltag hinterlassen haben.
Der Tod Alexei Nawalnys ist da gerade bekannt geworden, Menschen strömen in Russland auf die Straßen. Ich denke: Wird dieses Land jemals frei von Putins Herrschaft sein, jemals kein menschenfeindlicher Ort mehr sein? Und spüre: den Verlust von etwas. Schon wieder.
Der große Roger Willemsen schrieb über den Knacks in seinem gleichnamigen Buch vor vielen Jahren. Der Riss, so schrieb er, sei spürbar, teile das Leben in ein Diesseits und Jenseits. Nicht aber der Knacks. „Er ist unmerklich, er teilt nicht, er prägt.“
Der Knacks ist das nicht Sichtbare, das Verborgene. Er ist etwas, das bleibt. Der Riss hingegen ist das Trauma selbst. Für mich: der 24. Februar 2022, der Beginn des russischen Angriffskriegs; der 7. Oktober, der Überfall der terroristischen Hamas auf Israel.
Verbleib ungewiss
Diese beiden Risse haben viel für mich zerstört, mein Leben tief erschüttert. Und dabei sei gesagt, dass es Menschen gibt, die diese Risse noch viel stärker spüren als ich. Die Ukrainer selbst, die tagtäglich zum Angriffsziel werden. Menschen in Israel, die Angehörige, Freunde verloren haben am 7. Oktober, und diejenigen, deren Liebste noch immer in Gaza gefangen gehalten werden, deren Verbleib ungewiss ist.
Mir haben diese Risse Orte meiner Kindheit gestohlen, das unbeschwerte Verhältnis zu Teilen der eigenen Familie, weil diese lieber Propaganda nachhängen, als die Wahrheit anzunehmen, und Freundschaften, die brüchig geworden oder ganz verschwunden sind.
Wenn ich versuchen müsste, meinen Knacks zu beschreiben, dann wäre es: der Verlust. Nicht der menschliche, den wir alle erleben, die Endlichkeit. Ich meine einen Verlust, der Tieferes berührt, das Urvertrauen selbst.
Dieser Knacks meint den Verlust von Vertrauen in die Welt, dass es mal besser werden kann, dass es einen Platz gibt für mich und dass dieser Platz sicher ist.
„Eingangsbereich, der Korridor, keine Fenster“
Als der Krieg am 24. Februar 2022 ausbrach, flohen manche Juden aus der Ukraine nach Israel. Eine Flucht in der Hoffnung auf Sicherheit. Dann kam der 7. Oktober, und diese Menschen erlebten mal wieder, dass es für sie keine Sicherheit gibt. Mittlerweile fliehen manche dieser Menschen wieder zurück in die Ukraine. Wie grotesk ist das?
Auf einer Veranstaltung, die ich vor einiger Zeit moderierte, erzählte der ukrainische Dramatiker Pavlo Arie von seinem Neffen, der noch vor Beginn des russischen Angriffskriegs Alija nach Israel gemacht hatte. Er entging somit, ohne es zu ahnen, dem Krieg und Trauma, wurde sodann aber, am 7. Oktober in Israel, davon eingeholt. In seinem Tagebuch, das er mit dem 24. Februar begann und das er später veröffentlichte, beschreibt Pavlo, wie dieser Neffe ihm Tipps gab, in welchen Räumen seiner Wohnung er am besten vor russischen Raketen geschützt sein würde, also „Eingangsbereich, der Korridor, kahle Wände, keine Fenster“.
Es liegt darin also eine Kontinuität, wo die meisten wahrscheinlich keine vermuten würden. Der russische Angriffskrieg traf die jüdische Gemeinschaft in Deutschland besonders schwer. Knapp die Hälfte der Juden hier haben ihre Wurzeln in der Ukraine. Und mit dem 7. Oktober musste die jüdische Community einen weiteren Angriff verarbeiten, einen weiteren Verlust.
Vielleicht ist es so: Die Wiederholung von Traumata führt langfristig zu einem Knacks. Somit ist dieser, mein Knacks, nichts, was nur ich in mir trage. Er muss auch kollektiv verstanden werden. Dieser Knacks ist wie ein Splitter im Herzen, der dort seinen Platz gefunden hat. Und ist das Leben einmal angeknackst, ändert sich alles, für immer.
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