piwik no script img

Bremen will weniger Zwang in der Psychiatrie

Heute wird der Psychiatrieplan vorgestellt, der diverse Handlungsfelder identifiziert. Dazu gehören psychische Erkrankungen von Kita-Kindern sowie Fixierungen in Kliniken

Von Eiken Bruhn

Nicht weniger als 31 Aufgaben formuliert der Psychiatrie- und Suchthilfeplan des Landes Bremen. Am heutigen Dienstag wird er den Mitgliedern der parlamentarischen Gesundheitsdeputation vorgestellt. Darin geht es unter anderem um die Weiterentwicklung des vor elf Jahren angeschobenen Umbaus weg von einer überwiegend stationären hin zu einer ambulanten Versorgung. Aber auch um neue Angebote, die aus Sicht der Bremer Landesregierung aufgrund einer Zunahme psychischer Erkrankungen notwendig geworden sind.

Da sind zum Beispiel verhaltensauffällige Kinder. Deren Anteil wachse, auch der von Kindern mit „sozioemotionalen Problemen“, heißt es in dem Psychiatrieplan. Dies zeigten die Schuleingangsuntersuchungen der letzten Jahre und Berichte von Fachkräften. Vergangene Woche hatte der Weser Kurier etwa Carsten Schlepper, Geschäftsführer des Landesverbands evangelischer Kindertagesstätten in Bremen, wie folgt zitiert: „Wir haben heute doppelt so viele persönliche Assistenzen in unseren Einrichtungen wie vor drei Jahren.“ Das bedeutet, dass die Kinder nur mit einer erwachsenen Begleitperson die Kindertagesstätte besuchen können.

Das Problem besteht aus Sicht der Psychiatrie-Fachleute darin, dass solche Kindergartenkinder zwar an diversen Förderprogrammen teilnehmen und mithilfe von As­sis­ten­t:in­nen die Kita besuchen – aber nicht nach den Ursachen ihres Verhaltens geschaut wird. Solange finde zu wenig Arbeit mit den Familien statt, auch eine Diagnose fehle, heißt es in dem Landesplan.Auch in einer Kinderpsychiatriepraxis werden sie in der Regel erst mit Beginn der Schulzeit vorgestellt. Ursächlich sei ein strukturelles Problem: Die Bereiche Bildung, Jugendhilfe sowie Kinder- und Jugendpsychiatrie fallen aufgrund gesetzlicher Vorgaben unter die Zuständigkeiten verschiedener Kostenträger und unterschiedlicher Institutionen. Mit eigenen Projekten will das Land Bremen dem entgegen wirken.

Handlungsbedarf sieht die Bremer Landesregierung auch im Umgang mit chronisch schwer psychisch kranken Menschen, die sich und andere gefährden. Eine steigende Anzahl von ihnen werde außerhalb Bremens in geschlossenen Einrichtungen untergebracht, „weil in Bremen kein passendes Versorgungsangebot vorgehalten wird“. 2005 seien es 58 Personen gewesen, 2023 mit 111 Personen fast doppelt so viele.

Andere müssten nach einer Akut-Behandlung ohne medizinische Indikation im Krankenhaus bleiben, weil es keine Anschlussversorgung für sie gibt. Oder sie werden in „sehr teuren Einzelfall-Lösungen in besonderen Wohnformen mit zusätzlich finanziertem Fach- und Sicherheitspersonal“ untergebracht. Als „Aufgabe Nummer Acht“ formuliert der Landespsychiatrieplan daher die Gründung einer neuen, „stark strukturierten Einrichtung“, in der es auch möglich sein soll, Menschen gegen ihren Willen fest zu halten.

Die Zahl der Menschen, die von der Polizei in die Psychiatrie gebracht werden, ist seit 2010 stark angestiegen. 858-mal handelte nach Angaben der Bremer Gesundheitsbehörde in dem Jahr die Polizei nach Paragraph 19 des Bremer Psychisch-Kranken-Gesetzes, dass die sofortige Zwangsunterbringung auch ohne Gerichtsbeschluss erlaubt. In den Jahren 2019 bis einschließlich 2021 waren es jeweils zwischen 1420 und 1437 Fälle, in den vergangenen beiden Jahren nur noch 1330 beziehungsweise 1339 Fälle.

Der Anteil von Kindern mit „sozioemotionalen Problemen“ wachse, heißt es im Psychiatrieplan

Das Thema Zwang steht zusätzlich zum Landespsychiatrieplan auf der Tagesordnung der Deputation am Dienstag. Auf Bitte der Grünen-Fraktion nennt die Gesundheitsbehörde Zahlen über Zwangsmaßnahmen in den vier Psychiatrien im Land Bremen sowie im Maßregelvollzug im Klinikum Bremen Ost, wo psychisch kranke und/oder suchtkranke Straf­tä­te­r:in­nen inhaftiert sind. Diese Zahlen liegen in dem Bericht nur für die Jahre 2020 bis 2022 und teilweise bis 2023 vor. Einen Vergleich mit den Vorjahren konnte die Gesundheitsbehörde der taz nicht liefern. Im Jahr 2017 stand vor allem das Klinikum Bremen Ost in der Kritik wegen Fixierungen und zwangsweiser Vergabe von Medikamenten – aber auch in den Berichten der taz finden sich keine konkreten Zahlen.

143-mal wurde im Jahr 2022 ein nach Paragraf 19 ins Klinikum Bremen Ost eingelieferter Mensch an einer Liege mit Gurten fixiert, bezogen auf die Gesamtzahl der Pa­ti­en­t:in­nen war dies etwas mehr als im Jahr 2021 und etwa gleich viel wie im Jahr 2020. Im Klinikum Reinkenheide in Bremerhaven hingegen war die Fixierungsrate in diesen Jahren bis zu sechsmal so hoch. Ein Umstand, der sich laut Bericht bereits gebessert haben soll.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen