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Experimentalmusik aus der UkraineIm Untergrund der bröckelnden UdSSR

Die Label Shukai und Muscut betreiben eine Archäologie des Sounds aus der Ukraine und finden die wunderbare Musik der 1980er und 90er.

Irgendwann zwischen 1988 und 1993 in Kyjiw: die Band Cukor Bila Smert’ (Zucker Weißer Tod) Foto: ©Shukai, 2024

Die Harmonium- und Klaviermelodien sind fröhlich, dann wieder melancholisch, doch die zugrundeliegenden Walzerrhythmen animieren stets zum Tanzen. Dann setzt eine sanfte, aber ebenso beharrliche hohe Frauenstimme ein, die gleichberechtigt zur Instrumentalbegleitung erklingt – die Musik wirkt avantgardistisch und ist zugleich deutlich an traditionellem ukrainischen Gesang angelehnt.

Bei dem Stück handelt es sich um einen Song aus Svitlana Nia­nios zuvor unveröffentlichtem Soloalbum „Transilvania Smile“, mit Musik aus dem Jahr 1994. Veröffentlicht wurde es vor Kurzem beim ukrainischen Indie-Label Shukai. „Shukai“ kann am Treffendsten als die Aufforderung „Suche“ übersetzt werden: Geneigte Zu­hö­re­r*in­nen werden dazu aufgefordert, sich auf die Schatzsuche im ukrainischen Underground der Vergangenheit zu begeben.

Shukai funktioniert als Archiv dieser einzigartigen Sounds, die zwischenzeitlich in Vergessenheit zu geraten drohten – so auch die Werke der Musikerin Svitlana Nianio, die eine der wichtigsten Künst­le­r*in­nen­fi­gu­ren der alternativen Kyjiwer Musikszene der späten 1980er und frühen 1990er Jahre war. Die sieben kurzen Tracks, „Episoden I bis VII“, des Albums „Transilvania Smile“ entstanden während eines Deutschlandaufenthalts Nianios, die mit bürgerlichem Namen eigentlich Ohrimenko heißt.

Sie arbeitete damals zusammen mit der Kölner Choreografie-Gruppe Pentamonia an einem Tanztheaterprojekt. Die Studioaufnahmen entstanden nach Aufführungen der kollaborativen Performance in Köln und Aachen.

Die psychoaktiv wirkende Muskatnuss

Dass die so eigenwilligen wie wunderschönen „Episoden“ nun endlich weltweit erklingen, ist Shukai, das als Sublabel zum 2012 gegründeten Label Muscut gehört, zu verdanken. Der Labelname Muscut erinnert nicht nur an die in großen Mengen psychoaktiv wirkende Muskatnuss, sondern vereint auch die beiden Wörter „Music“ und „Cutting“.

Label-Gründer Dmytro Nikolaienko, der sich zurzeit in Amsterdam befindet, erzählt der taz, wie alles anfing: „2011 bin ich von meiner Heimatstadt Dnipro nach Kyjiw gezogen. Ich habe Musik gemacht und erfolglos versucht, ein Label zu finden, das an einer Veröffentlichung interessiert war – also beschloss ich, mein eigenes Label zu gründen.“

Die Alben

Svitlana Nianio: „Transilvania Smile“ (Shukai)

Cukor Bila Smert': „Recordings 1990-1993“ (Shukai)

Nikolaienko: „Live at Cafe Oto“ (Muscut)

Die erste Veröffentlichung von Muscut war die Compilation „Test Pressing“ (2012) – „ein Test, um zu prüfen, ob die Welt ein weiteres Label braucht“. Offenbar verlief dieser erfolgreich. Muscut ist inzwischen in der internationalen Musikszene ein geläufiger Name: Zuletzt erschien das Album „Live at Cafe Oto“ von Labelgründer Nikolaienko, auf dem bei einem Konzert in London mitgeschnittene Ambientsounds verschiedener Couleur zu hören sind.

Das Muscut-Labelprogramm ist überaus vielfältig: Da ist etwa das traumartige Album „Sea Songs“ des Musikers Hennadii Boichenko aus der Hafenstadt Odessa. Sein verschrobener funky Retro-Psychedelic-Sound wurde ursprünglich auf Kassette aufgenommen und ohne digitales Zwischenprodukt mit einer Tape-to-Vinyl-Transfertechnik auf Schallplatte übertragen. Zu nennen ist auch die Kooperation mit dem estnischen Label MIDA: Gemeinsam brachte man die Fundraiser-Compilation „Volia x Rahu“ heraus, mit Songs junger Künst­le­r*in­nen aus der Ukraine, Estland und Portugal.

Alle Einkünfte aus dem Verkauf gingen vollständig an die kleine Kyjiwer NGO „Livyj Bereh“, die vom Krieg zerstörte Häuser in der Ukraine wieder aufbaut. Aktivismus ist die eine Sache, die andere Sache ist die lebenswichtige Archivpflege. Bei Muscut steht die ukrainische Experimentalmusik der Gegenwart im Fokus, die Inspiration beim ukrainischen Underground der Vergangenheit findet und die auch den Ton für die Zukunft der Szene nach dem Krieg setzen dürfte.

Vergessener Soundtrack für einen sowjetischen Sci-Fi-Film

Das Archiv-Sublabel Shukai beschäftigt sich mit ebendiesem Erbe. „Shukai ist ein Archiv-Plattenlabel, das die verlorenen ukrainischen Tapes aus den 1960er bis 1990er Jahren wieder zum Leben erweckt“, so Dmytro Nikolaienko. Es sind wahre Schätze: Soundtracks, Fernseh-Titelmelodien und private Archive von Outsider-Künstler*innen. Das Sublabel wird von Nikolaeienko, Dmytro Prutkin und Sasha Tsapenko betrieben.

Sie gründeten Muscut 2018, als sie einen vergessenen Soundtrack für den sowjetischen Sci-Fi-Film „Der Luftverkäufer“ veröffentlicht haben. Das verloren gegangene Mastertape dieses Werks von 1967 lag im Archivregal der Odessaer Filmstudios und es brauchte jahrelange Recherchen, bis sie es nach vielen vergeblichen Kontaktversuchen endlich in die Hände bekamen.

Auf die Frage, welche Art von Musik für das „Shukai-Archiv“ überhaupt in Frage kommt, antwortet Nikolaienko: „Sie muss auf eine gute Art schräg sein, nicht zu kitschig oder poppig.“ Zu den wichtigsten Künst­le­r:In­nen zählen neben Svitlana Nianio etwa die Ex­pe­ri­men­tal­mu­si­ke­r*in­nen Valentina Goncharova und Oleksandr Yurchenko – ebenfalls wichtige Figuren des ukrainischen Undergrounds.

Die bislang letzte Shukai-Veröffentlichung stammt von Cukor Bila Smert’, Ukrainisch für „Zucker Weißer Tod“. Dabei handelt es sich um ein Kyjiwer Bandprojekt, das von 1988 bis 1993 bestand und dessen Mitglied Svitlana Nianio war. Vor Kurzem veröffentlichte Shukai das Gesamtwerk der Band, deren Musik irgendwo zwischen Noise und Kammermusik einzusortieren ist. Nach Auflösung von Cukor Bila Smert’ setzte Nia­nio ihren musikalischen Werdegang als Solistin fort, doch die musikalische Prägung durch die Band bleibt in ihrem Werk hörbar.

In den neuen Freiheitsräumen

Der ukrainische Underground, der während der späten 1980er und frühen 90er Jahren in den neuen Freiheitsräumen nach dem Zusammenbruch des Kommunismus mit Kyjiw und Charkiw als kreativen Zentren entstand, war insofern einzigartig. Hier fusionierten neue akademische Musik, traditioneller ukrainischer Folk und neue Musiktrends aus dem Westen.

Das abgetakelte Sowjetsystem verabschiedete sich relativ geräuschlos, besonders wichtig im Übergangschaos der 1990er war die künstlerische Freiheit – ohne Zutun von außen. Ein Gros dieser Musik blieb unveröffentlicht und ist bis jetzt auch nur lückenhaft erforscht – für Shukai gibt es also für die nächsten Jahre jedenfalls noch viel zu sichten und zu katalogisieren.

Doch der Kriegsalltag seit Februar 2022 erschwert diese „archäologische“ Wühlarbeit des Labels, und aus diesem Grund konzentriert sich das Programm auf den Undergound der 1990er Jahre als Schwerpunkt: „Ursprünglich wollten wir uns auf die Archive der 1960er bis 1980er Jahre fokussieren, aber leider gibt es da ein logistisches Problem mit diesem Zeitraum. Wir hatten eine Menge Material, das wir unbedingt veröffentlichen wollten, aber die meisten Künst­le­r*in­nen sind bereits verstorben, unbekannt verzogen – oder die Verwandten der Künst­le­r*in­nen haben die Ukraine infolge des Krieges verlassen, und es ist unmöglich, an Kontakte zu kommen.

Die ältere Generation, die in den 60er bis 80er Jahren aktiv war, benutzt meist keine Handys. Manchmal besuchten wir sie dann einfach in ihren Wohnungen, um mit ihnen zu sprechen und ihre Privatarchive anzuhören. So kam es also dazu, dass wir in den letzten beiden Jahren vor allem an ukrainischer Musik der 90er Jahre gearbeitet haben – weil sie leichter zugänglich ist.“

Der US-Musikjournalist Philip Sherburne trifft ins Schwarze, wenn er zur Bestimmung, ob ein Album von Muscut oder von Shukai veröffentlicht wurde, schreibt, dass dies „ohne einen Blick auf das Logo auf der Hülle zu werfen“ und allein durch das Hören schwer zu erkennen sei. Egal, ob diese wunderbare und eigenwillige Musik dann aus einem alten Schallarchiv stammt, oder ob es sich um zeitgenössische ukrainische Musik handelt – Muscut und Shukai erlauben den geneigten Hö­re­r:In­nen, den vielseitigen und spannenden ukrainischen Underground für sich zu entdecken.

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