Die Wahrheit: Der rauchende Mormonen-Colt

Die Suche nach den seltsamsten christlichen Kleinkulten des 19. Jahrhunderts befördert einen sehr merkwürdigen Helden ans Tageslicht der Religionen.

Manchmal bin ich neidisch. Wie ich ja schon öfter berichtete, war ich als Kind bei den Zeugen Jehovas, einer durchaus bizarren Sekte: drei Mal in der Woche in den Königreichssaal, Predigtdienst von Tür zu Tür, keine Weihnachts- oder Geburtstagsfeiern, das Verbot von Bluttransfusionen, ein täglich drohender Weltuntergang, striktes Masturbationsverbot, Homophobie de luxe …

Was andere verstört, war für mich normal. Aufstehen, Mini-Schlips und Mini-Sakko anziehen und mit einem Erwachsenen von Haus zu Haus gehen: „Haben Sie schon mal darüber nachgedacht, ob es ein Leben nach dem …?“ Rums, Tür zu. Nervig, repetitiv, deprimierend.

Eine dröge, freudlose Buch­religion, die man nur durch ein gemäßigtes Doppelleben ausgleichen konnte. Das hieß als Kind: einen Zündplättchen-Revolver unterm Bett verstecken – und als Jugendlicher: Bravo lesen und leichtes Petting mit Regina Grunewald. Mit anschließendem schlechten Gewissen.

Was ich damals noch nicht wusste, war, dass es vergleichbar strenge Kulte gibt, die zwar nicht besser, aber in ihrer Lehre und Historie viel interessanter, weil noch durchgeschepperter, als die Zeugen Jehovas sind.

Aus naheliegenden Gründen bin ich inzwischen Hobby-Sektologe und habe mich vor allem mit den klassischen, im 19. Jahrhundert entstandenen christlichen Kleingruppierungen beschäftigt. Hier nun das Ergebnis meines kopfinternen Votings zur prickelndsten Schrullen­religion. Trommelwirbel: die Mormonen!

Es gibt viele Gründe für meine Wahl: der Glaube, dass Gott auf dem Planeten „Kolob“ in der Sternengruppe „Kokaubeam“ lebt; ihre heilige Unterwäsche; die Vielehe – inzwischen nur noch von fundamentalistischen mormonischen Sekten, also von Sektensekten, praktiziert –; oder die Lehre, dass Jesus nach seinem Tod nach Amerika reiste, um zu den dortigen Bewohnern zu predigen …

Das Faszinierendste aber ist: Die Mormonen haben ihren eigenen Revolverhelden, mit einem richtigen Revolverhelden-Namen: Porter Rockwell. Beiname: „The Destroying Angel of Mormondom“.

Rockwell war der Leibwächter des Sektengründers Joseph Smith. Er trug einen langen Western-Staubmantel und schnitt sich – wie der biblische Simson – nie die Haare, weil Smith ihm prophezeit hatte, langhaarig sei er unbesiegbar.

Rockwell soll hunderte von Leuten umgelegt haben und wird mit dem Satz zitiert: „I never killed anyone who didn’t need killing.“ Als er angeklagt wurde, ein – missglücktes – Attentat auf einen Politiker verübt zu haben, verteidigte er sich mit den schlüssigen Worten: „Hätte ich ihn wirklich erschießen wollen, wäre er tot.“

Obwohl mir heutzutage jede Gangster-Romantik fremd ist, muss ich zugeben: Ein Glaubensbruder wie Porter Rockwell hätte meinem zehnjährigen Spielzeugknarren versteckenden und heimlich „Rauchende Colts“ schauenden Ich wahrscheinlich ziemlich gefallen.

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Autor, Theater-Dramaturg, Performer und Musiker. Hartmut El Kurdi schreibt Theaterstücke, Hörspiele (DLF / WDR), Prosa und für die TAZ und DIE ZEIT journalistische und satirische Texte. Für die TAZ-Wahrheit kolumniert er seit 2001. Buchveröffentlichungen (Auswahl): "Revolverhelden auf Klassenfahrt", "Der Viktualien-Araber", "Mein Leben als Teilzeit-Flaneur" (Edition Tiamat) / "Angstmän" (Carlsen) / "Als die Kohle noch verzaubert war" (Klartext-Verlag)

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kari

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