Zum Tod von René Pollesch: „Ich kann allein nicht denken“
Stirbt jemand, hinterlässt er eine Leerstelle: Ein paar Gedanken zum verstorbenen Volksbühnen-Indendanten René Pollesch von einem Wegbegleiter.
Am Montag ist René Pollesch plötzlich und unerwartet gestorben. Diese Plötzlichkeit bringt es mit sich, dass einem Leben der Epilog fehlt. Kein Altern, keine Krankheit, plötzlich ist ein Mensch einfach weg. Wie eine Serie oder ein Podcast, die alle lieben, aber die plötzlich abgesetzt wird. Gerade war da noch was. Und dann war es weg. Alle, die René kannten – und noch vor einer Woche auf seiner letzten Premiere waren –, stehen unter Schock.
Ich kannte René seit Anfang der nuller Jahre. Ich weiß noch, wie „Menschen in Scheißhotels“, damals Teil der sogenannten Prater-Trilogie, im Prenzlauer Berg einschlug. Schon der Titel elektrisierte uns, die wir damals Anfang 20 waren. Ich war ein junger Student und schrieb aus Berlin Theater- und Filmkritiken für die NZZ. René war ein noch junger Regisseur – und über Nacht ein Star. Bei unserem ersten Treffen aßen wir ein Schnitzel im Biergarten des Prater.
Es klingt wie eine Tautologie, René als Menschen zu bezeichnen, der seine Gedanken – wie Kleist einst schrieb – beim Reden verfasste. Er ist ja, in den 20 Jahren, die nach diesem ersten Treffen kamen, zum Inbegriff des Instant-Denkens auf schwindelnden Höhen, quasi auf Weltgeistniveau geworden. René sprach durch seine Spieler*innen hindurch, gemeinsam mit ihnen. Mit den Engeln, mit Judith Butler, aber vor allem, so kam es mir vor: mit mir. Wenn jemand etwas vergaß, dann schrie eben die Souffleuse dazwischen. In seinen frühen, den Prater-Abenden, hatte sie den meisten Text.
Menschlich, wie man so sagt, war René unfassbar professionell: Er erkannte mich, den Studenten, immer sofort, auch im verrücktesten Gewühl. Dann wurden wir „Kollegen“, dann Freunde und auf einmal waren wir beide „Intendanten“ und sprachen über Koproduktionen. Das alles kam mir vor wie ein Jugendscherz, wie gespielt. Im Theater kann man Richard III. sein oder ein russischer Anarchist, warum nicht auch „Intendant“?
Renés einzige Furcht war die Einsamkeit
Renés Tod beendet deshalb, absurd spät, meine Jugend. Als müssten wir jetzt wirklich sein, was wir geworden sind. Denn solange René lebte, war ich jung, lebte im Konjunktiv, in Scheißtheatern und in Scheißhotels. Alles war unernst, in die Luft gesagt. Und ich glaube, es geht vielen, vielleicht meiner ganzen Generation von Theatermacher*innen so.
Renés einzige Furcht war die Einsamkeit. Er brauchte verzweifelt heiß ein Gegenüber. Schauspieler*innen erzählen sich, wie er sie anflehte, über Weihnachten weiterzuproben. „Ich kann allein nicht denken“, dies ist der Satz, der mich von Renés Beitrag zu unserem Buch „Why Theatre?“, das während der ersten Covid-Welle erschien, am tiefsten in Erinnerung geblieben ist. Genauer schrieb er: „Ich bin froh, mir erarbeitet zu haben, was man gemeinhin von der Schauspielerin und vom Schauspieler denkt, nämlich, dass sie alleine nicht arbeiten können.“
Der Satz umreißt Renés Philosophie des Theaters: ein Raum, der einen von der eigenen Gedankenlosigkeit, von den eigenen Gefühlen befreit. „Alleine“, schrieb René, „kann man gar nicht denken, man kann nur fühlen.“ Das Theater war für ihn ein Kreuzungspunkt der Einsamkeiten. Alle seine Texte sprechen von der Einsamkeit, die sich nur in der gegenseitigen Verunsicherung auflöst, der Liebe, dem Beobachtet-Sein, wie er mit Luhmann sagte – er kannte Luhmann, wie Tausende andere Autor*innen, auswendig.
Ja, Theater machen hieß für René: sich glücklich auflösen in einer Art Kollektivintelligenz, in der totalen, gelebten Verfertigungsklugheit. Die man dann, was ja das Schöne war beim Pollesch-Gucken, mit hinaus ins Leben nehmen konnte. War man an einem Abend von René, dann dachte und lebte man für einige Stunden und Tage freier.
Vielleicht auch deshalb, weil er seriell arbeitete: Die Abende waren nie sein erstes oder letztes Wort, sondern eher ein zufälliger, funkelnder (und immer öfter auch düsterer und trauriger) Ausschnitt aus dem Pollesch-Gedankenstrom.
Warum Theater?
René hat mich klüger gemacht, zugleich zorniger und entspannter, tiefer und oberflächlicher. Ich freute mich immer sehr, wenn unsere Wege sich kreuzten. Als er an der Volksbühne zum Intendanten ernannt wurde, nach dem unseligen Zwischenspiel mit Chris Dercon, zog er schnell das Interesse junger Aktivist*innen auf sich. Plötzlich war er jemand, hatte etwas: ein „Haus“, wie man im Theater sagt, eine Intendanz.
Und was völlig unwahrscheinlich war: ein Gegenwind von Machtkritik blies ihm ins Gesicht, René Pollesch, dem die Institution am extremsten kritisierenden Theater-Denker Deutschlands. So kam es in den letzten Jahren manchmal vor, dass mein Name sowohl auf den Manifesten für wie gegen René erschien – meistens natürlich ohne mein Wissen.
René Pollesch
Wenn wir uns trafen, machten wir Witze darüber: „Deine Mitarbeiter*innen haben ein Pamphlet gegen mich veröffentlicht“, sagte René. Und ich sagte: „They do what they do.“ Manchmal zitierte er in seinen Stücken aus den Manifesten gegen ihn, übrigens auch im Text, den er für mich schrieb. Und dann sprachen wir über anderes, zum Beispiel über ein Stück, das wir zusammen für die Wiener Festwochen 2025 planten.
Was noch? Vielleicht dies, der Satz, mit dem Renés Text zu „Why Theatre?“ begann: „Eine Frage wäre, um die gewöhnliche wegzukriegen: warum etwas nicht mehr funktioniert: Warum hat es jemals funktioniert?“ Und weiter unten: „Alles macht man für jemand anderen. Für jemanden, den man liebt zum Beispiel.“
That’s it. Lebe wohl, lieber René!
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