„Ich bin kein Fahrradhasser“

Der Berliner Fahrgastvertreter Jens Wieseke über die Versäumnisse der Grünen in der Verkehrspolitik, die Streiks bei BVG und S-Bahn und das Pünktlichkeitselend der Tram

Interview Claudius Prößer

t az: Herr Wieseke, an diesem Dienstag wird mal wieder die S-Bahn von der GDL bestreikt, während die Verhandlungen zum Manteltarifvertrag der BVG laufen, hat Verdi schon mehrfach Busse, Trams und U-Bahnen lahmgelegt. Ist das aus Ihrer Sicht legitim bei der BVG?

Jens Wieseke: Ich denke, die Berliner Probleme erforderten keinen Streik, da ging es um den bundesweiten Kontext. Ein stillstehender Bus Unter den Linden macht in den Nachrichten mehr Eindruck als einer in Pirmasens. Das ist eben Solidarität unter Gewerkschaftern. Was die Forderungen angeht, vertraue ich der Expertise meiner Gewerkschaft Verdi. Klar ist: Gute Arbeitsbedingungen, um die ja in diesem Fall gerungen wird, kosten schlicht und ergreifend Geld. Als Busfahrer im Straßenverkehr unterwegs zu sein, ist ein harter, stressiger Job, da muss auch das Umfeld stimmen. Die BVG ist ein Player in einem ausgedünnten Arbeitsmarkt und muss ihrem Personal etwas bieten, um es zu halten.

Und der Streik bei der S-Bahn?

Bei den Tarifkämpfen bei der Deutschen Bahn muss man eine Verhärtung der Positionen konstatieren. Leider sind dabei die Fahrgäste die Leidtragenden. Niemals würde ich die Tarifautonomie infrage stellen. Allerdings fordern die Fahrgastverbände schon lange einen verlässlichen Notfahrplan. So etwas ist in Italien seit 1990 Pflicht und hat sich bewährt. Aber dazu müsste sich der Bund bewegen und im Rahmen der Daseinsvorsorge so etwas gesetzlich absichern.

Streiks im ÖPNV sind immer zweischneidig. Irgendwann fangen sie an, das Bild von einem zuverlässigen Verkehrsmittel als Alternative zum Auto zu unterhöhlen.

Wenn bei der Berliner S-Bahn gestreikt wird, kann das ruhig die Stadtbahn betreffen, aber auf den Außenästen muss es noch ein Angebot geben, damit zumindest eine U-Bahn-Linie erreicht werden kann. Es gibt Gegenden in der Stadt, da sind die Menschen ohne Notfahrplan aufgeschmissen. Da muss dann eben aus Kladow alle 20 Minuten ein Bus bis zum S-Bahnhof Spandau fahren. Auch Kliniken müssen erreichbar bleiben.

Wie soll das funktionieren?

Entweder setzt das Unternehmen Kollegen ein, die ohnehin nicht streiken, oder es vereinbart mit der Gewerkschaft, dass bestimmte Linien auch bei Streik aufrechterhalten werden. Dass so etwas zulässig ist, muss aber der Bund erst regeln. Da erwarte ich auch vom Senat, eine solche Initiative auf den Weg zu bringen.

Jüngst wurde eine Pünktlichkeitsbilanz des Berliner ÖPNV veröffentlicht. Die Zahlen waren so schlecht wie lange nicht. Am unpünktlichsten schnitt 2023 ausgerechnet die Tram ab, die die IGEB als Lösung für viele Probleme betrachtet.

Sehen Sie sich nur mal die Verlängerung der M10 an, also im Prinzip alles, was nach der Wende von der Eberswalder Straße bis heute zur Turmstraße gebaut wurde. Da ist keine Kreuzung dabei, die sauber ist. Jede ist auf ihre Art schlecht gelöst, an keiner hat die Straßenbahn Vorrang. Dann ist an kritischen Stellen die Spur nicht frei, weil sie vom Autoverkehr mitgenutzt wird, und es ergeben sich enorme Rückstaus. Das ist einfach nur erbärmlich, und da wundert mich die schlechte Pünktlichkeit in keiner Weise.

Ihr Verband schreibt, mit Vorrangschaltungen lasse sich der Personalbedarf bei der BVG „sofort um Hunderte Köpfe reduzieren“. Ist das nicht ein bisschen dick aufgetragen?

Es gibt begründete Aussagen, dass die BVG um die 300 Fahrerinnen und Fahrer anderweitig einsetzen könnte, wenn überall Vorrang gelten würde. Die BVG selbst spricht von 100. Außerdem könnten Fahrzeuge eingespart werden, und damit zum Beispiel Personal in den Werkstätten.

Das müsste dann doch auch im Interesse der BVG sein.

Jens Wieseke, 1964 in Köpenick geboren, engagiert sich seit 1993 beim Berliner Fahrgastverband IGEB, derzeit als stellvertretender Vorsitzender und Sprecher. Seit 1981 arbeitet er als „Briefträger mit Abitur“, heute im technischen Support der Briefzustellung in Berlin und Brandenburg.

Genau. Aber Sigrid Nikutta (BVG-Chefin von 2010 bis 2020) hat sich um dieses Thema zu spät gekümmert, Eva Kreienkamp (BVG-Chefin von 2020 bis 2023) war eine ziemliche Fehlbesetzung, und Rolf Erfurt (seit 2019 Vorstand Betrieb bei der BVG) hatte deshalb zu viele Baustellen. Ich hoffe, dass Henrik Falk (der neue BVG-Chef) jetzt mal auf den Tisch haut und zur Politik sagt: So nicht, Leute. Gebt mir die Ressourcen, schaltet mir die Straßen frei, dann kriege ich das auch hin.

Sie haben jetzt das frühere Führungspersonal der BVG kritisiert. In einem persönlichen Positionspapier haben Sie kürzlich vor allem mit der Verkehrspolitik der Grünen abgerechnet.

Ich hatte nach der Wahl 2016 große Erwartungen. Ich bin zu Zeiten eines Michael Cramer in die IGEB eingetreten – mit Leuten wie ihm bei den Grünen war völlig klar, dass der ÖPNV einen ganz hohen Stellenwert für die Verkehrswende hat. Aber dann kam Regine Günther (Verkehrssenatorin von 2016 bis 2021) ins Amt, eine Frau, die nicht kommunizieren konnte und völlig kritikunfähig war. So hat Frau Günther mich zeitweise auf Twitter geblockt, weil ich sie dort kritisiert habe. Das war wirklich lächerlich.

2021 folgte Bettina Jarasch als Verkehrssenatorin.

Ja, darauf mussten wir bis zur Wahl warten, weil die Grünen es nicht geschafft haben, Frau Günther trotz fehlender Eignung abzusägen, auch nicht nach dem viel kritisierten Rauswurf ihres Staatssekretärs Jens-Holger Kirchner. Mit Frau Jarasch habe ich dann zum ersten Mal persönlich gesprochen, als wir uns in einem katholischen Gottesdienst begegnet sind. Die Wege des Herrn sind bekanntlich unergründlich. Sie brachte tatsächlich einen anderen Kommunikationsstil rein und rief mich auch schon mal an, um sich etwas aus unserer Sicht erklären zu lassen. Genau dazu ist die IGEB ja mal gegründet worden.

In Ihrem Papier kritisieren Sie die grüne Verkehrspolitik als „im Kern unsozial“.

Ein harter Satz, ich weiß. Aber wissen Sie, auch wenn ich von meinem Habitus klar zur Mittelschicht gehöre, bezeichne ich mich auf meinem X-Account als „Briefträger mit Abitur“, und ich kenne durch meinen Beruf viele systemrelevante Leute. Das ist eben nicht nur die berühmte Krankenschwester, sondern auch der Briefzusteller oder die Verteilkraft bei der Post. Und ich kenne deren Arbeitswege. Diese Leute haben vielleicht Kinder und leben in einer Großsiedlung am Stadtrand, das sind berlinweit Hunderttausende Menschen, die hart produktiv arbeiten und bei den Grünen nicht im Fokus stehen. Für mich ist klar: Verkehr ist nicht nur Ökologie, sondern auch angewandte Sozialpolitik.

Die Grünen sehen das nicht?

Manche von ihnen sagen mir Dinge wie: „10 Kilometer auf dem Fahrrad sind für den Alltag normal.“ Das mag für manche gelten, aber nicht unbedingt für die alleinerziehende Mutter, die im Falkenhagener Feld wohnt und in Schöneberg im Schichtdienst arbeitet. Maximal kann ich hoffen, dass sie mit dem Rad zur Haltestelle fährt.

Ist es ein Problem, dass Verkehrssenatorin Manja Schreiner (CDU) ebenso wenig wie ihre Vorgängerinnen vom Fach ist?

Nein, entscheidend sind die Staatssekretäre und Abteilungsleiter. Die müssen Ahnung haben. Mit einer Person an der Spitze, die Generalist ist und Akten frisst, die sich einarbeitet und zuhören kann, habe ich überhaupt kein Problem. Es muss auch einen Bänderdurchschneider geben, der die Politik dann verkauft.

„Die Berliner Probleme erforderten keinen Streik“

Von den Magnetschwebeträumen der CDU halten Sie trotzdem nicht viel, oder?

Die CDU kann, was die Grünen nicht können: sich als Macherpartei darstellen. Magnetschwebebahn, das klingt für viele hip und modern, aber es lenkt von den tatsächlichen Problemen ab, etwa davon, dass wir dringend den Berliner Nordosten erschließen müssen. Ich glaube aber, dass die Senatorin sich von der populistischen Verkehrspolitik ihrer Fraktion freischwimmen will. Das Schreiner-Bashing mache ich nicht mit, ich bin von ihr in der Summe angenehm überrascht.

Auch davon, dass Schreiner die Tempo-50-Abschnitte auf Hauptverkehrsstraßen massiv reduziert?

Natürlich will sie sich auch mit der Rückkehr zu Tempo 50 profilieren, aber da erfüllt sie einfach die Agenda, für die die CDU gewählt worden ist. Das kann man ihr nicht vorwerfen. Trotzdem verstehe ich die Befürchtungen vieler Menschen, dass der Ausbau der Radinfrastruktur stockt oder gar fallen gelassen wird.

Sie haben nicht den Eindruck, dass die Mobilitätswende zurückgedreht werden soll?

Ich habe den Eindruck, dass dem Mobilitätsgesetz eine zarte Novellierung durchaus guttun würde, auch im Abschnitt zur Entwicklung des Radverkehrs. Ein Gesetz ist ja etwas Lebendiges.

Da schreit jetzt die Fahrrad-Bubble auf.

Soll sie. Ich bin eben der Sprecher eines Fahrgastverbands, da liegen mir die Interessen der Fahrgäste näher als die der Radfahrer. Wobei ich natürlich weiß, dass auch unter den Fahrgästen viele Radfahrer sind. Und ich bin definitiv kein Fahrradhasser, mir geht es nur um Ausgewogenheit. Wenn auf der Kantstraße ein Pop-up-Radweg angelegt wird und dann der Expressbus nach Spandau im Stau steht, macht mich das stinkig. Oder wenn der Schienenersatzverkehr für die Nord-Süd-S-Bahn nicht mehr am Bahnhof Oranienburger Straße halten kann, weil das Bezirksamt die Tucholskystraße unabgestimmt zur Fahrradstraße umgewidmet hat.

Foto: Stefanie Loos

Die IGEB hat eine beachtliche Außenwirkung, aber nur rund 200 Mitglieder und zwei Dutzend Aktive. Warum zieht das Thema nicht so viele Menschen an wie das Fahrrad?

Das Fahrrad ist halt hip, als Radfahrer bin ich selbst aktiv, unabhängig und zumindest auf kurzen Wegen schneller. Beim ÖPNV bin ich quasi nur passiver Nutzer. Ich gebe auch zu, dass der Einsatz für den ÖPNV manchmal fast sektiererisch wirken kann, wobei unsere Arbeit gar nicht so viel mit den Expertenforen zu tun hat, an die da viele gleich denken. Heinrich Strößenreuther …

… der Initiator des Volksentscheids Fahrrad …

… hat mich als Pufferküsser bezeichnet. Das bin ich nicht. Auch wenn ich in den 80ern mal unerlaubterweise eine S-Bahn nach Oranienburg gefahren habe, weil mein Onkel Triebfahrzeugführer war. Ich will ganz einfach – Achtung, jetzt wird es pathetisch – eine funktionierende Stadt.

Sie hatten schon sehr früh einen Bezug zum Thema, oder?

Ja, es gibt da eine gewisse frühkindliche Prägung durch ein großes, privat gebautes Straßenbahnmodell aus der Zeit um 1930, das in der Familie weitergereicht wird und das in meinem Wohnzimmer einen Ehrenplatz hat. Das bekommt mal mein kleiner Neffe, die Erbfolge ist klar geregelt. (lacht)