Zustand der russischen Zivilgesellschaft: Erschöpfung und Hoffnung
An der Berliner Volksbühne debattieren Menschenrechtsaktivisten zur desolaten Lage Russlands. Das Unheil begann nicht erst unter Putin.
„Es fängt nicht erst mit Putin an“, sagt Alexander Cherkasov von der renommierten russischen Menschenrechts-Organisation Memorial. Zusammen mit David Schraven vom Recherche-Kollektiv Correctiv sitzt er am Mittwochabend in der Berliner Volksbühne. In wenigen Tagen jährt sich der Beginn des russischen Angriffskrieges in der Ukraine bereits zum dritten Mal.
Anlass genug, um sich mit der Verfasstheit der russischen Zivilgesellschaft auseinanderzusetzen, finden Correctiv, Memorial und Radio Sacharow, das Exilmedium des Moskauer Sacharow-Zentrums. Sie laden gemeinsam ein zu einer Podiumsdiskussion „Aggressor Russland: Was macht die russische Zivilgesellschaft?“
Schraven legt zunächst den Fokus auf die jüngere Vergangenheit und fragt Cherkasov nach den Unterschieden zwischen dem ersten Tschetschenienkrieg Mitte der 1990er Jahre und dem zweiten Krieg. Denn nur der zweite Krieg liegt in Putins erster Amtszeit als Präsident. Und in diesem Zusammenhang fällt auch der Schlüsselsatz – das Unheil fängt nicht erst mit Putin an.
Der imperiale Gedanke
Gleichzeitig poppt bei dem Versuch, die russische Gesellschaft einer aktuellen Bestandsaufnahme zu unterziehen, immer wieder auf, dass der imperiale Gedanke in der Bevölkerung tief verankert ist und längst eine Hauptrolle in ihrem kollektiven Verhalten als politisches Subjekt einnimmt.
Dieser Wunsch nach imperialer Größe wurde bereits auch unter Boris Jelzins Herrschaft (1991 bis 1999) bedient, wie Cherkasov darlegt. Exemplarisch im ersten Tschetschenienkrieg (der 1994 begann), dem Krieg der Moskauer Zentralmacht gegen eine kleine autonome Republik am Südrand des Herrschaftsgebiets im Kaukasus. Cherkasov konstatiert, dass von 1994 bis 1996 im Zuge der kriegerischen Auseinandersetzungen im Nordkaukasus zweimal so viel Menschen ihr Leben verloren haben wie beim Wiederaufflammen des Konflikts drei Jahre später.
Aber es war damals noch möglich, sich für Wandel einzusetzen. Diesen Handlungsspielraum gibt es beim zweiten Krieg nicht mehr! Dafür sind die russischen Kriegsverbrechen zwischen 1999 und 2009 gut dokumentiert. Das haben einige Menschen, die sich darum verdient gemacht haben, mit ihrem Leben bezahlt, zum Beispiel die Journalistin Anna Politkowskaja, die 2006 in ihrem Wohnhaus in Moskau ermordet wurde. „Wir müssen die Kriegsverbrecher, die damals im Auftrag des russischen Staates gehandelt haben, aufspüren und vor Gericht bringen.“ In Cherkasovs Stimme liegt Erschöpfung. Seit 30 Jahren beschäftigt er sich mit diesem Thema.
Vom Stadtgericht liquidiert
In Russland ist der Menschenrechtler längst als sogenannter „ausländischer Agent“ von Putins Repressionsapparat gebrandmarkt. Memorial wurde 2021 vom Moskauer Stadtgericht liquidiert und 2022 mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet. Cherkasov macht im Berliner Exil weiter. Sergej Lukaschewski vom ehemaligen Menschenrechtsmuseum und Kulturzentrum Sacharow-Zentrum hat ein Hoffungsprojekt, das er mithilfe von Correctiv verwirklichen will: Radio Sacharow. Momentan noch ein reines Internet-Radio, wird es bald von Berlin aus über Satellit bis in den Ural senden.
Radio Sacharow möchte so in die russische Gesellschaft hineinwirken und der allgegenwärtigen Propaganda eine Plattform gegenüberstellen, die viele verschiedene Stimmen zu Wort kommen lässt und so Debatten auslöst. Ein Fokus wird sein, das Narrativ von der Notwendigkeit imperialer Größe aufzubrechen und damit einhergehend den Regionen, in denen ethnische Minderheiten leben, mehr Sichtbarkeit zu verschaffen.
In 79 Regionen Russlands sind bis jetzt über 20.000 Menschen inhaftiert worden, weil sie sich gegen den russischen Angriffskrieg in der Ukraine positioniert haben. Dieser Teil der russischen Zivilgesellschaft ist aufgrund der staatlichen Repressionen unsichtbar. Radio Sacharow schafft hier mehr Öffentlichkeit. „Die Diskussion, wie wir Demokratie gestalten wollen, ist in den 1990ern nicht geführt worden“, sagt Nikolai Plotnikow von der Ruhr-Universität in Bochum, „das müssen wir jetzt nachholen.“
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