Stundenlange Kontrolle der Bundespolizei: Lange Nachspielzeit für HSV-Fans

Am Sonnabend wurden 855 HSV-Fans über Stunden in einem Zug festgehalten, um 60 mutmaßliche Gewalttäter zu identifizieren. War das verhältnismäßig?

eine Mensch steht vor einer Hauswand und wird von Polizist:innen fotografiert

„Zur Schau gestellt“ hat sich einer der betroffenen HSV-Fans gefühlt Foto: André Lenthe/Imago

HAMBURG taz | Nach einer groß angelegten Razzia gegen Fans des Hamburger Sportvereins (HSV) am Samstagabend am Bahnhof Hamburg-Bergedorf steht die Bundespolizei in der Kritik. Etwa 400 Beamte haben nach dem Auswärtsspiel in Rostock 855 Fußballanhänger stundenlang in einem Regionalzug festgehalten und kontrolliert. Der Grund: Die Bundespolizei wollte Fans identifizieren, die im vergangen September an einer Schlägerei in Mannheim beteiligt gewesen waren.

Insgesamt handelte es sich dabei um 60 Verdächtige. Außerdem sollen einige Fans am Samstag bei der Abreise aus Rostock Polizeibeamte angegriffen haben. Von allen Fans im Zug wurden deshalb Personalien aufgenommen.

Einer von ihnen war Julius Reuting, der nach eigener Aussage zum ersten Mal bei einer HSV-Auswärtsfahrt dabei war. Den Einsatz in Bergedorf hält er für unverhältnismäßig. Er habe von 19.45 Uhr bis etwa 23.15 Uhr im Zug warten müssen, anschließend seien auch seine Personalien aufgenommen worden. Das deckt sich auch mit Darstellungen der Bundespolizei: Laut einer Pressemitteilung haben von 20.10 bis 02.30 Uhr Identitätsfeststellungen stattgefunden.

„Im Zug war es unglaublich stickig, wir durften die Fenster nicht öffnen, haben kein Wasser bekommen und die Sanitäranlagen waren in meinem Abteil so überlaufen, dass wir sie nicht mehr wirklich benutzen konnten“, sagt er der taz. Einige Menschen seien auf dem Bahngleis von Sanitätern behandelt worden, das habe Reuting aus dem Fenster heraus beobachten können. Die Fanhilfe des HSV habe nach einigen Stunden Wasserflaschen in den Zug reichen können.

Bedenken „nicht ernst genommen“

Die Bundespolizei habe insgesamt schlecht kommuniziert. Erst um 20.15 Uhr, eine Stunde nachdem der Zug in Bergedorf hielt, habe es die erste direkte Durchsage der Polizei gegeben, um über das Vorgehen zu informieren. „Während der gesamten Zeit war es nur schwer möglich, mit Verantwortlichen zu sprechen“, sagt Reuting. „Der Einsatzleiter kam erst gegen 23 Uhr vorbei. Unsere Bedenken, dass die Luft schlecht ist und wir kein Trinkwasser haben, hat er nicht wirklich ernst genommen.“

Reuting sei nach dreieinhalb Stunden in einer Zehner-Gruppe aus dem Zug zu einer Bearbeitungsstelle vor dem Bahnhof geführt worden, wo seine Personalien aufgenommen wurden. „Auf dem Weg dahin hatten wir Einzelmanndeckung, ich habe mich gefühlt, als wäre ich ein Schwerstkrimineller. Das war sehr unangenehm vor den Pas­san­t*in­nen auf dem Gleis. Ich habe mich richtig zur Schau gestellt gefühlt“, sagt er.

Kritik an dem Einsatz gibt es auch aus der Politik: Die Fraktionsvorsitzende der Linken Cansu Özdemir schrieb auf Anfrage der taz: „Der ganze Einsatz wirft ernstliche Fragen nach der Verhältnismäßigkeit auf.“ Aber woran lässt sich überhaupt festmachen, wann ein Einsatz verhältnismäßig ist – oder eben nicht?

Cansu Özdemir, Linken-Fraktionschefin in der Hamburger Bürgerschaft

„Wenn über 850 Fans stundenlang kontrolliert werden, macht das den Eindruck, als würden die Fans in Kollektivhaft genommen“

„Dafür muss man unterscheiden zwischen dem Einsatz an sich und der Art der Durchführung“, so Özdemir. Ersteres sei bereits fragwürdig: „Wenn über 850 Fans für einige wenige Verdächtigte stundenlang kontrolliert werden, macht das den Eindruck, als würden die Fans in Kollektivhaft genommen.“ Ohne genaueres Wissen über das Ermittlungsverfahren lasse sich diese Frage aber nicht bewerten.

Die Durchführung des Einsatzes sei jedoch unangemessen gewesen: Es sei nicht in Ordnung, Personen ohne Toilettenmöglichkeit in einem überhitzen Zug festzuhalten. Die Politikerin fordert, den Einsatz politisch und rechtlich aufzuarbeiten. Auch die innenpolitische Sprecherin der Grünen-Fraktion, Sina Imhof, hält den Einsatz für unangemessen. „Die Maßnahme der Polizei, die auch zahlreiche Minderjährige und Frauen betroffen hat, scheint nicht ausreichend durchdacht gewesen zu sein“, teilte sie auf taz-Anfrage mit. Die Berichte von betroffenen Fans nehme sie ernst, auch ihre Fraktion wolle die Durchführung des Einsatzes deshalb aufklären.

Die „Fanhilfe Nordtribüne“ der HSV-Anhänger*innen geht einen Schritt weiter. Sie bezeichnet die Razzia nicht nur als unangemessen, sondern verurteilt sie als rechtswidrig. „Es war klar, dass mehr als 90 Prozent der mitfahrenden Fans nichts mit den Vorfällen in Mannheim oder Rostock zu tun hatten“, sagt ein Vertreter der Fanhilfe. „Da lässt sich auf jeden Fall argumentieren, dass der Einsatz nicht verhältnismäßig war.“ Ob das stimmt, ist eine Frage die letztlich Gerichte entscheiden.

In einer Stellungnahme ruft die Fanhilfe betroffene Fans bereits dazu auf, Gedächtnisprotokolle von dem Einsatz anzufertigen, um juristische Schritte einleiten zu können. Die Gruppierung schließt auch nicht aus, strafrechtlich gegen die Einsatzleitung vorzugehen und Schadensersatz zu fordern. Inzwischen hätten schon mehr als 100 betroffene Fans ihre Protokolle geschickt, so der Vertreter.

Landfriedensbruch „schwerwiegende Straftat“

Und wie rechtfertigt die Bundespolizei den Einsatz? In einer Pressemitteilung begründet Einsatzleiter Jan Müller die Razzia mit dem Schweregrad der Vorwürfe: „Landfriedensbruch ist eine schwerwiegende Straftat, die die Sicherheit und den Frieden unserer Gesellschaft bedroht. Wir nehmen diese Straftaten äußerst ernst und setzen alle verfügbaren Ressourcen ein, um die Verantwortlichen zu identifizieren.“ Die Bundespolizei wolle gewährleisten, dass Bahnreisen von Fußballfans sicher ablaufen, heißt es weiter.

Der Inspektionsleiter aus Karlsruhe ergänzt, ein entschlossenes Vorgehen der Bundespolizei würde ein deutliches Zeichen gegen „Fußballstörer“ setzen: „Es gibt keine Toleranz bei Straftaten und Gefahren im Zusammenhang mit dem Fußballfanreiseverkehr!“ Auf Nachfragen antwortete die zuständige Pressestelle der Bundespolizei in Hannover bis Montagabend nicht.

Bereits am Sonntagmorgen hatte die Bundespolizei mitgeteilt, dass bislang insgesamt 52 mutmaßliche Gewalttäter identifiziert worden seien. Durch die Aktion am Bahnhof Bergedorf seien 31 Tatverdächtige ermittelt worden. Nach Angaben der Bundespolizei verlief die Kontrolle weitgehend störungsfrei.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.