Wer um ihn trauert, dem droht Arrest

Nach dem Tod von Alexei Nawalny geht Russlands Regime selbst gegen jene vor, die ihre Trauer um den Kremlkritiker bekunden wollen: Blumen und Kerzen werden einfach abgeräumt. Die Angehörigen warten unterdessen weiter darauf, Zugang zum Leichnam zu erhalten

Ihm wenigstens die letzte Ehre erweisen: Um Nawalny Trauernde legen am 16. Februar am Sankt Petersburger Denkmal für die Opfer politischer Repression Blumen nieder Foto: reuters 

Aus Moskau Inna Hartwich

Sie tauchen in der Nacht auf, räumen im Schutze der Polizei Blumen und Kerzen weg, schänden das, was Tausende von Menschen – voller Tränen die einen, voller Stille die anderen – hier abgelegt haben, weil sie trauern: um den in Haft hinterm Polarkreis umgekommenen Alexei Nawalny. Ihr Idol. Dafür, dass der 47-Jährige in einem Land Politik möglich machte, in dem Politik unmöglich gemacht wurde, bezahlte der Kremlkritiker mit dem Leben.

Die Blumen aber sind auch am nächsten Tag wieder da. Frische Nelken und Rosen, rote, weiße, gelbe, mit schwarzem Band oder kleinen Nachrichten versehen. Sie liegen in Moskau und Sankt Petersburg, in Nowosibirsk und Samara, in Tscheljabinsk und Tomsk und Ulan-Ude. Sie liegen da, obwohl die Polizei die Menschen wegscheucht, obwohl sie in ihre Megafone schreit: „Weitergehen!“ Obwohl sie manche Frauen und Männer teils brutal an Armen und Beinen packt und in die am Straßenrand abgestellten Polizeitransporter wirft. Mehr als 400 Menschen sollen bei Blumenniederlegungen quer durch Russland übers Wochenende festgenommen worden sein, meldete die russische Menschenrechtsorganisation OWD-Info. Manche von ihnen erhielten bereits ihr Urteil: 15 Tage Arrest.

Am Solowki-Stein in Moskau hat jemand „Habt keine Angst“ mit blauem Edding auf ein kariertes Blatt Papier geschrieben und neben das Blumenmeer gestellt. Gegenüber thront der ockerbraune Klotz von Lubjanka, der mächtigen Zentrale des russischen Geheimdienstes FSB. Früher, als der Dienst noch Tscheka und später KGB hieß, fällten die Henker hier die Urteile, die Millionen von Menschen im Gulag – angefangen von den Solowki-Inseln im Weißen Meer – das Leben nahm, auch wenn sie überlebten. Der schwere Findling von den Solowki erinnert an die Verbrechen im Stalinismus.

Am menschenfressenden, staatlich gezüchteten Monster aus Isolation, Bestrafung und Zerstörung hat sich in Russland bis heute nichts geändert. Auch die Strafkolonie von Charp, in der Nawalny nun starb – am „Syndrom des plötzlichen Todes“, wie die Stafvollzugsbeamten Nawalnys Mutter und seinem Anwalt allen Ernstes in der Regionalhauptstadt Salechard mitteilten –, geht auf die Zeiten des Gulag zurück.

„Ich will ihm wenigstens die letzte Ehre erweisen“, sagt eine ältere Frau am Solowki-Stein am Samstag. Der Menschenstrom, den die Polizei durch die Unterführung von Lubjanka leitet und dabei jeden filmt, hört nicht auf. Die Frauen und Männer, jung, alt, mittelalt, selbst Familien kommen, stapfen durch den matschigen Schnee, strecken sich, um ihre Blumen auf den Findling zu legen, versuchen, kurz innezuhalten. „Junge Frau, weitergehen, nicht stehenbleiben“, brüllt ein Polizist ins Megafon. „Machen Sie den Weg frei“, schreit ein anderer und weist ein älteres Paar vom Stein.

Es war Nawalny, der den Menschen zeigte, was ein politisches Subjekt ausmacht. Der sie spüren ließ, was einen Menschen zu einem Bürger macht. Er verlor diesen Kampf gegen einen Staat, der selbst mit seiner Leiche ein Katz-und-Maus-Spiel veranstaltet. Auch zwei Tage nach dem Tod haben die Angehörigen am Sonntag keinen Zugang zur Leiche erhalten. Bislang soll es keine Obduktion gegeben haben, die Leiche soll, so meldet die russischsprachige Nowaja Gaseta Europe, im Regionalkrankenhaus von Salechard liegen. Ein Zeuge in der Klinik habe ausgesagt, die Leiche weise blaue Flecken auf, die bei Krämpfen entstehen könnten. Nawalny sei offenbar am Herzstillstand gestorben, warum sein Herz aufhörte zu schlagen, sei unklar. Offizielle Stellen äußerten sich bisher nicht zum Verbleib der Leiche.

„Alexei war einer der wichtigsten Menschen, der mir geholfen hat zu glauben, dass Politik nicht der langweilige, graue, klebrige Scheiß ist, mit dem diese Anzüge im Fernsehen vollgestopft sind, sondern buchstäblich mein Leben“, schreibt eine, die Russland nach dem Überfall auf die Ukraine verlassen hatte, in ihrem Telegram-Kanal. Ein anderer, noch in Moskau, meint: „Ein Volksaufstand würde die im Kreml wecken. 100.000 Menschen müssten es wenigstens sein.“ Doch selbst dabei mitmachen? „Nee, zu gefährlich.“ Die Widerständigen, sie sind zu Hunderttausenden ins Exil gegangen. Immer repressivere Gesetze nehmen den im Land Gebliebenen die Möglichkeiten, auf die Politik einzuwirken. Es gibt kein Ventil, keine Partei, die eine Alternative sein darf. Es gibt keine Opposition.

Die parlamentarischen Pseudo-Oppositionellen nicken alles ab, ducken sich, sind Teil des Regimes. Eines Staates, der seine ganze Macht einsetzt, um Kri­ti­ke­r*in­nen verstummen zu lassen. Wie weit dieser geht, zeigte die politische Verfolgung Nawalnys. Das zeigt auch sein Tod, der nicht einfach ein Tod ist, sondern ein politischer Mord. Sein politisches Erbe werden nun andere übernehmen müssen – wenn sie der Erstarrung entkommen können.

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